1941 begangen und dann vertuscht: Das Pogrom von Jedwabne steht für das Verdrängen in Europa: Bequeme und unbequeme Geschichte
Noch vor zehn Jahren wurde am Ende der Rampe von Auschwitz-Birkenau eine grobe Unwahrheit verbreitet, und das in 19 Sprachen und in 19 Steinplatten gemeißelt: "Märtyrer- und Todesort von 4 Millionen Opfern, ermordet von nazistischen Völkermördern 1940 - 1945. " Erst 1991 konnte gegen zähe Widerstände durchgesetzt werden, dass die Tafeln abmontiert und statt der mythologischen Fiktion den Ergebnissen der historischen Statistik der Vorzug gegeben wurde. Tatsächlich starben im KZ Auschwitz-Birkenau etwa 1,1 Millionen Menschen. Eine knappe Million Opfer davon wurden allein deshalb ermordet, weil sie Juden waren. Obwohl die Vervierfachung einer Zahl normalerweise nicht als Kleinigkeit durchgehen kann, machte diese Geschichtsrevision die deutsche Politik des Völkermords nicht weniger abscheulich; sie hat die symbolische Bedeutung von Auschwitz nicht geschmälert.Ähnlich verhält es sich mit den Forschungen von Jan Tomasz Gross über das Massaker von Jedwabne. Lange war behauptet worden, es seien Deutsche gewesen, die am 10. Juli 1941 den Massenmord an den 1 600 jüdischen Bürgern der Kleinstadt begangen hätten. Nach den Ergebnissen von Gross steht unzweifelhaft fest, dass die römisch-katholischen Nachbarn die Täter und Profiteure dieses Mordens waren.Lob des Revisionismus Die späte Berichtigung des historischen Sachverhalts beinhaltet eine erhebliche Revision in Polen vertrauter Geschichtsbilder. Sie sagt etwas über die Popularität des Projekts "Endlösung der Judenfrage" zumindest in dieser Region - und lenkt das Denken auf die Frage: Wie war es denn sonst im deutsch besetzten Polen und in anderen europäischen Ländern? Immerhin findet sich nicht nur in der Autobiografie von Ephraim Kishon, der als Ferenc Hoffmann 1924 in Budapest aufgewachsen war, die Überzeugung: Das nationalsozialistische Deutschland habe mit der "Endlösung" ein europäisches Projekt betrieben.Keinesfalls geben die Forschungen über Jedwabne den Holocaust-Leugnern Recht. Gross spricht von der Schuld und Täterschaft der Polen, ohne die deutsche Gesamtverantwortung zu schmälern. Er entzieht jedoch den nationalpädagogisch gewünschten und politisch verfestigten Geschichtsbildern den Boden. Im Fall von Jedwabne fällt auf, wie der postkommunistische Staatspräsident Kwasniewski sich zu einer eindrucksvollen öffentlichen Geste bereit fand, nicht jedoch, die in Polen gesellschaftlich so starke katholische Kirche. Sie aber trägt einen erheblichen Teil der historischen Schuld, weil ihr nach der Zerschlagung der Republik Polen im September 1939, die politisch-moralische Willensstärkung zum Schutz der Juden zugekommen wäre. Aber sie hat an diesem entscheidenden Punkt, und daher rührt die Bockigkeit des Klerus, schwer versagt.Die Arbeiten von Jan Gross fordern schon immer zum Nachdenken über Legendenbildung und über die absichtsvolle Ausklammerung größerer Zusammenhänge auf. 1979 trat er mit einer sorgfältigen Untersuchung über die polnische Gesellschaft unter deutscher Besatzung hervor. In einer sieben Jahre später veröffentlichten Studie wechselte er die Perspektive und betrachtete mit Hilfe von 20 000 handgeschriebenen Aussagen systematisch befragter Zeitzeugen die Sowjetisierung Ostpolens nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Es geht dabei um die Zeit zwischen dem September 1939 und dem Juni 1941. Jedwabne gehört zum Bezirk Bialystok, der damals sowjetisch und nach 1945 im Unterschied zu den anderen seit 1921 ostpolnischen Gebieten wieder polnisch wurde.Während des sowjetischen Interregnums in Ostpolen wurden binnen 20 Monaten etwa neun Prozent der gesamten lokalen Bevölkerung in die verschiedensten Teile der Sowjetunion deportiert - insgesamt mehr als eine Million Menschen. Nachdem die Deutschen den sowjetischen Bündnis- und Handelspartner am 22. Juni 1941 überfallen hatten, folgte nach einiger Zeit die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Moskau und der polnischen Exilregierung in London. Das führte zur "Amnestierung" der verschleppten Polen (darunter selbstverständlich auch polnische Juden) und zum Aufbau einer polnischen Armee. Die dafür rekrutierten Soldaten überschritten 1942 mitsamt ihren Familien in einem Treck von 120 000 Personen die sowjetisch-persische Grenze.Hier wurden sie von historisch-geheimdienstlichen Kommissionen der Briten und Polen empfangen und aufgefordert, auf Fragebögen ihre Erlebnisse und Eindrücke aus Sowjetrussland ausführlich aufzuschreiben. Derartige Berichte der jeweils Entronnenen bilden für Gross in aller Regel das Ausgangsmaterial und führen ihn zu Einsichten, die auf der Basis des normalen Verwaltungsschriftgutes oft nicht zu gewinnen sind.Im Hinblick auf die sowjetische Gewalt- und Willkürherrschaft in Ostpolen gelangt er dabei zu klaren Ergebnissen. Er beschreibt anhand der Quellen einen Schwindel erregenden Prozess der gesellschaftlichen Zersetzung, des regellos erscheinenden Deportierens, Aushungerns, Verhaftens und Mordens: "Kein Bürger war in der Lage, die eigene Sicherheit garantieren zu können, dafür aber konnte er das Leben irgendeines anderen Menschen relativ leicht ruinieren. Vor allem daraus erklärt sich wohl auch der in totalitären Regimen hinlänglich bekannte Pulverisierungsprozess gewachsener Sozialgefüge. " Für die Art der Deportationen in Ostpolen steht zum Beispiel ein Bericht wie dieser: "Der Forstbedienstete J. G. hatte acht kaum bekleidete, barfüßige Kinder und seinen alten gelähmten Vater dabei. Er bat darum, wenigstens den alten Mann zurücklassen zu dürfen. Sie lehnten aber ab. Der alte Mann starb dann auf dem Weg nach Pinsk. Ein Kind starb bereits im Zug. " Aus Bialystok berichtete der sowjetische Journalist Herschl Weinrauch, wie aus Mangel an Milizionären auch sowjetische Zivilisten für die ethnischen und sozialen "Säuberungen" eingesetzt wurden: "Unsere Zeitung musste dafür zwei Leute abstellen. Ich selbst war einer davon. Sie händigten uns Gewehre aus und wir zogen dann mit der Polizei los, um Menschen zu verhaften und sie nach Sibirien zu schicken. " Raubgut für die Armen Die Deportationen gingen selbstverständlich mit vollständiger Enteignung, der "Sozialisierung", einher. Da die Politik der bolschewistischen Phasentheorie folgte, wurde das Geraubte an die Armutsbevölkerung, beziehungsweise an die Stützen der neuen Ordnung verteilt. Das Material lässt klar werden, warum die deutschen Soldaten in diesen Regionen Ende Juni 1941 vielfach nicht als Feinde, sondern als Retter empfangen wurden.In diesem Klima, nach dieser Vorgeschichte, ereignete sich der Massenmord von Jedwabne. Die christlichen Einwohner der Kleinstadt setzten unter den nun von der deutschen Besatzungsmacht gegebenen politischen Vor- (Fortsetzung auf Seite 10) (Fortsetzung von Seite 9) -zeichen fort, was sie vorher unter sowjetischer Herrschaft insgesamt zum Teil mitgetragen und zum anderen Teil erlitten hatten.Nun könnte man voreilig sagen: Die totalitären Großdiktaturen! Da hätten wir es wieder! Aber in einem solchen Glauben läge abermals ein unzulässiger Optimismus. Da in Polen 1944/45 sofort eine stalinistische Satellitenregierung zur Macht gelangte, eignet sich dieses Beispiel nicht, um die totalitarismustheoretische Denkhemmung zu stören. Nehmen wir daher Ungarn, das zwischen 1945 und 1948 über eine halbwegs demokratische Regierung verfügte. Es eignet sich auch deshalb, weil die ungarischen Juden erst im Sommer 1944 auf deutschen Wunsch und mit Hilfe äußerst tatkräftiger ungarischer Beihilfe deportiert worden waren.Die Verfügung zur Enteignung der Deutschungarn unterschrieb am 15. März 1945 der ungarische General Bela Miklós in der provisorischen Hauptstadt Szeged. Noch am 21. Juli 1944 hatte derselbe Miklós Hitler in der Wolfsschanze besucht, ihm die ungarische Treue versichert und sich widerspruchslos die ausschweifenden Erklärungen des Diktators zum Judenmord angehört. Ein knappes Jahr später arbeiteten dieselben ungarischen Beamten, die eben noch die jüdischen Hinterlassenschaften umverteilt hatten, an der Umverteilung des deutschen Besitzes.Die richtige Verteilung Neben Miklós unterzeichnete Landwirtschaftsminister Imre Nagy das Gesetz - später Chef und Märtyrer der Aufstandsregierung von 1956. Die erste zivile Nachkriegsregierung Ungarns leitete dann der liberaldemokratische Politiker Zoltan Tildy, 1948 durch die Kommunisten vertrieben, 1956 Minister der Aufstandsregierung. Seine Partei, die bis 1944 im Parlament vertreten war, hatte 1938 dem ersten ungarischen Gesetz zur materiellen Diskriminierung jüdischer Staatsbürger mit der Bemerkung zugestimmt: "Dass die richtige Verteilung des Einkommens und des Vermögens die grundlegende Frage bildet. " Es ist die Spur der Massenbereicherung, der Umverteilung und des seltsamen Staatsziels möglichst großer leitkultureller und sozialer Homogenität, die in Jedwabne zu einem Pogrom führte, in Auschwitz zu einem beispiellosen Massenmord und im vorkommunistischen Ungarn zu gierigen Exzessen der Vertreibung und der Kollaboration.Zu einer optimistisch verengten Geschichtsinterpretation besteht kein Anlass. Jedes Mal hieß die Parole ganz einfach: Wir sind das Volk.Die böse Tat und ihr späteres Verschweigen folgt in Jedwabne dem einfachen Prinzip: Wir sind das Volk.DPA/EVA KRAFCZYK Der verschwiegene Terror einer elenden, staats- und kirchenfrommen ostpolnischen Kleinstadt.