Akademie der Künste: Der Käthe-Kollwitz-Preis geht an Ulrike Grossarth: Rote Pantoffeln aus Lublin

Rabbi Yaakov Yitzchak Horowitz hatte den Beinahmen "Seher von Lublin", das war um 1815. Martin Buber machte 1941 in einer Novelle den legendären jüdischen Gelehrten in "Gog und Magog" zu einer literarischen Gestalt. Der "Seher" hatte im jüdischen Viertel von Lublin gelebt und gewirkt.1940 wurde der berühmte Ort in Polen von der SS zum Ghetto erklärt, zwei Jahre später waren Häuser, Straßen, Plätze entseelt und zerstört. Dann wurde aus Lublin das Vernichtungslager namens Majdanek. 1944 schrieb der amerikanische Journalist William H. Lawrence nach dem Anblick des wegen des Anrückens der Roten Armee von der SS überstürzt geräumten Lagers: "Ich habe soeben den schrecklichsten Ort auf Erden gesehen ., eine wahre Produktionsstätte des Todes, in der nach Schätzungen von sowjetischen und polnischen Behörden bis zu 1 500 000 Menschen aus fast jedem Land Europas in den letzten drei Jahren ermordet wurden ..."Ein Jahr vor Ausbruch des Krieges hatte der Fotograf Stefan Kielsznia das Lubliner Judenviertel noch intakt fotografiert: die Läden, die Cafés, die Schneiderstuben, die Leute auf den Straßen, eine kleine, einfache, aber funktionierende und reiche kulturelle Welt. Drei dieser Fotos hängen nun an der Wand im Ausstellungsraum der Akademie der Künste am Hanseatenweg. Die Ästhetik der alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen ist berückend: Poetisch wirken die Grauwerte der morbiden Fassaden, geheimnisvoll die tiefen, saugende Schwärzen der Hauseingänge. Dazu all die Leute, die ihrem vertrauten Alltag nachgehen, die noch nichts wissen von Katastrophe und Tod. "Sie alle sind die späteren Opfer der Nazis", sagt Ulrike Grossarth nachdenklich.Die Malerin behandelt die schlicht gerahmten und verglasten Motive wie Juwelen. Auf einer Reise nach Lublin 2005 hatte sie die Fotos gesehen. Ein Schlüsselerlebnis, wie die aus Oberhausen stammende und an der Dresdner Kunstakademie lehrende Künstlerin heute sagt. Daraufhin entstand ihr Zyklus "Szeroka 28". Die Bilder füllen nun einen ganzen Saal - ein "europäischer Erinnerungsraum", wie Grossarth ihre Inszenierung nennt. Die Ausstellung wird an diesem Sonntag mit einem Festakt eröffnet, der die 1952 geborene einstige Tänzerin, Malerin und Konzeptualistin sehr berührt: Sie bekommt den Käthe-Kollwitz-Preis. Und zwar - ganz im Sinne der Kollwitz - dafür, dass ihre Kunst im Brachland des Vergessens entsteht, gegen die Leere wirkt. Und weil sie Gedanken und Gedenken erzeugt.Ulrike Grossarth bringt bildhafte Fundstücke der Geschichte zusammen mit Bildern, die sie dieser Vergangenheit entnimmt und daraus eigene Motive macht, die aber immer auf das Gefundene zurückwirken. Die Zunftzeichen, Signets und Schilder an den Fassaden und an den Schaufenstern der Lubliner Schneiderläden etwa werden bei ihr zu großen bunten, fast pophaften Zeichen, Piktogrammen und Schnittmustern mit zig Verweisen. Sie alle fordern uns Betrachter als mündige Interpreten heraus. Da sind zum Beispiel Stoffmuster, die Grossarth von den Lubliner Schneiderwerkstätten auf den Kielsznia-Fotos reproduziert hat. Zu sehen sind Mäntel aller Couleur, zerschlissene, die an Gogols Novelle "Der Mantel" denken lassen. Und prächtige, die gute, solide Zeiten symbolisieren. Und da sind auch bunte, die von Sonnenköpfen, nackten Beinen und blanken Füßen spazieren getragen werden. Fast immer passieren diese halb grotesken, halb poetischen Szenen auf ornamentalen Stoffmustern, in die sich auch die Künstlerin selbst für das Bild "Lublin-Lounge" hüllt und wofür sie ihre Füße in knallrote Haus-Pantoffeln steckte.Neben ihrem Selbstporträt hat die Malerin auch das Mini-Modell der Schule von Rabbi Horowitz dargestellt. Welch ein Symbol für ein Behaustsein, das im September des Jahres 1939 an Orten wie Lublin mit einem Schlag endete in völligem Ausgesetztsein.Ort, Zeit und Geschehen fließen in solchen Arbeiten zusammen. Grossarth verbindet Gewesenes und Heutiges mit ungewöhnlichen Gedankensträngen, so verwebt sie in Zeichnungen an der Wand und in Videos die Lublin-Geschichte mit der Enzyklopädie Diderots und D'Alemberts - französische Aufklärung mit einem stillen Ort unmittelbar vor Beginn der nationalsozialistischen Barbarei. Und wieder ist es der Mantel in all seinen Modeformen seit dem 18. Jahrhundert, der als Bildmetapher über die Wand geistert. Wieder sind es Bildszenen, in denen Grossarth sanft, aber unbequem nach dem Zusammenhang von Erkenntnis und Handeln fragt. Ihre Arbeiten haben stets Modellcharakter: Sie breitet Instrumentarien aus, die bestimmte Erfahrungsweisen befördern oder Versuche ermöglichen sollen. Ihre Herangehensweise ist oft von verblüffender Einfachheit - dort, wo sie Sprache und Begriffe auf ihre physische Abhängigkeit überprüfen will. Sich in der Kunst ums Leben, kümmern, Genregrenzen aufbrechen, Osmosen schaffen, auch energetische Reibung mit dem Alltag und seinen Systemen und Strukturen - das ist ihre Maxime. Wie sie sich das vorstellt, demonstriert sie in dieser Ausstellung eindrücklich.Mitunter ist es, als werfe Ulrike Grossarth mit ihren Erinnerungsbildern Steine ins Wasser, es entstehen Wellenkreise, die sich wiederum unablässig einander berühren und das System der Bezüglichkeiten und Anstöße fortsetzen. Das geschieht bei ihr sanft, unaufdringlich, oft fast beiläufig. Es gibt keine spektakulären Effekte. Stattdessen verlangt sie vom Betrachter intensives, konzentriertes Lesen, Ausdeuten, Assoziieren.Ja, Grossarths Kunst ist intellektuell, dabei kommt sie gut aus ohne jenes hochtrabende Theoriengeschwurbel. Sie braucht nicht den "hohen Ton", weil sie tief im Leben geerdet ist. Wie schon die Kunst der Kollwitz.Preisverleihung und Ausstellungs- eröffnung Sonntag, 6. 9. um 11.30 Uhr, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10 (Tiergarten). Zu sehen bis 18. 10., Di-So 11-20 Uhr, Eintritt frei.------------------------------Ulrike Grossarth fragt sanft, aber unbequem nach dem Zusammenhang von Erkenntnis und Handeln.Foto: Ein Selbstporträt Ulrike Grossarths in der "Lublin-Lounge", New York 2009