Aloisio Lorscheider - ein Kardinal als Geisel

Ausnahmsweise unfreiwilliges Reality-TV lieferte am Dienstag abend das brasilianische Fernsehen seinen entsetzten Zuschauern. Ein Team des Medienmultis "O Globo" hatte Kardinal Aloisio Lorscheider bei einem Besuch im Gefängnis seiner Heimatstadt Fortaleza begleitet, wo der hochangesehene Kirchenmann Berichte über Menschenrechtsverletzungen prüfen wollte. Dann ging alles sehr schnell: Eine Gruppe von Häftlingen überwältigte die Besucher, entwaffnete die Wächter, riß den 69jährigen, schwer herzkranken Kardinal zu Boden und knebelte ihn. Später waren Bilder zu sehen, wie die Geiseln mit dem Messer bedroht wurden. Erst nach vielstündiger Flucht in einem gepanzerten Geldtransporter ließen die Kidnapper gestern ihre Opfer frei.Mag die Lage in den überfüllten Gefängnissen auch verzweifelt sein -- für die Gewalttat ausgerechnet gegen Lorscheider bringt in Brasilien niemand Verständnis auf. Nur wenige im Lande haben sich so für die Elenden und Rechtlosen, zu denen auch die Gefängnisinsassen gehören, eingesetzt wie gerade der Kardinal mit den deutschen Vorfahren. Als 18jähriger zog er die Franziskanerkutte über und blieb dem Armutsideal des Ordens bis heute treu: Ähnlich wie auch seine Amtsbrüder Kardinal Arns oder Erzbischof Heider Camata lebt er nicht in einem ihm "zustehenden" erzbischöflichen Palast, sondern in einem bescheidenen Anbau des Priesterseminars von Fortaleza.1976 zum Kardinal ernannt, galt Lorscheider bei beiden Papstwahlen 1978 als Geheimtip -- immerhin kommt er aus dem Land mit den meisten Katholiken der Welt. Doch letztlich machte statt des als sehr links bekannten Brasilianers der stramm konservative Pole Wojtyla das Rennen.Als in den folgenden Jahren der Streit zwischen den stark sozial engagierten "Befreiungstheologen" in Lateinamerika und dem Heiligen Stuhl eskalierte, stand Lorscheider seinen Mann. 1984 begleiteten er und sein Kollege Arns als "Schutzengel" den Vatikankritiker Leonardo Boff zur Strafaudienz nach Rom. Den Vorwurf, mit seiner scharfen Kritik an den bestehenden Machtstrukturen in Brasilien vermische er Politik und Theologie, weist er zurück: "Jede Theologie ist politisch engagiert." Fragt sich nur, auf welcher Seite, doch da hat Lorscheider mit seiner "Option für die Armen, seine Wahl längst getroffen. Hinnerk Berlekamp Aloisio Lorscheider