An der Charité können Alkoholiker ambulant entziehen. Die Ergebnisse sind ebenso gut wie auf Station: Der diskrete Weg aus der Sucht

Der erste Schritt in ein Leben ohne Alkohol führt durch eine Hintertür der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité auf dem Campus Mitte. Dort empfangen der Suchtmediziner Jakob Hein und seine Kollegen Menschen, die entschlossen sind, dem Alkohol abzuschwören - nicht in einer Klinik, sondern daheim. Die Charité ist das erste Krankenhaus im Norden Deutschlands, das Alkoholikern die Möglichkeit bietet, ambulant zu entziehen.Wer sich von seiner Sucht befreien will, muss zunächst seinen Körper entgiften. Das dauert etwa zehn Tage. Normalerweise begeben sich Alkoholiker dafür in eine psychiatrische Klinik oder eine spezielle Suchtklinik. Anders an der Charité: "Die meiste Zeit der Entgiftungsphase verbringen die Patienten zu Hause", berichtet Hein. Einmal am Tag stellen sich die Entzugswilligen in der Ambulanz vor. Denn Hein und seine Kollegen müssen ihren gesundheitlichen Zustand überwachen. Sie überprüfen die Blut- und Leberwerte und lindern Entzugserscheinungen. Wer zum Beispiel durch die Umstellung des Stoffwechsels unter hohem Blutdruck leidet, wird mit Blutdruck senkenden Medikamenten versorgt. Wer Gefahr läuft, einen Krampf zu bekommen, erhält Anti-Epileptika.Hilfe von PsychologenDarüber hinaus werden die Betroffenen psychologisch betreut. "Jeder Patient führt zwei bis drei Gespräche mit einem Psychologen an der Charité", sagt Hein. Die Klinikpsychologen vermitteln die Patienten dann an regionale Beratungsstellen weiter, die Einzel- und Gruppentherapien anbieten. "In der Einzeltherapie geht es vor allem um die Bewältigung von persönlichen Problemen, die zur Alkoholsucht geführt haben", erläutert Hein. In der Gruppentherapie sollen die Alkoholiker erkennen, welche Funktion der Alkohol für sie erfüllt. Gemeinsam überlegen sie sich Strategien, wie sie auch nach der Therapie trocken bleiben können. In Berlin gibt es in jedem Stadtbezirk eine Beratungsstelle, in der Psychologen und Sozialarbeiter die Alkoholabhängigen nach der Entgiftung betreuen. Diese Entwöhnungsphase kann bis zu zwei Jahre dauern.Hein und seine Kollegen haben seit dem Start des ambulanten Programms im vergangenen Juni bereits mehr als dreißig Betroffene erfolgreich entgiftet. Wartezeiten müssen die Entzugswilligen bislang nicht in Kauf nehmen. "Wir können fünf neue Patienten pro Woche aufnehmen", sagt der Mediziner.Aber wie sinnvoll ist es überhaupt, ambulant zu entziehen? Bisher gibt es nur wenige Studien über die Methode, die in Deutschland erstmals 1990 in München angewandt wurde. Eine Untersuchung hat eine Forschergruppe um Michael Soyka von der Ludwig-Maximilians-Universität in München kürzlich im Fachmagazin Drug and Alcohol Dependence veröffentlicht. Der Psychiater und seine Kollegen hatten 103 Patienten ambulant entwöhnt. 20 Monate lang nahmen diese nach der körperlichen Entgiftung an 80 bis 120 Psychotherapiesitzungen teil. Die Therapeuten arbeiteten nach unterschiedlichen psychologischen Methoden. Ein großer Teil der Sitzungen fand in Gruppen statt.Drei Jahre später fragten die Ärzte nach, ob die Patienten ihre Sucht überwunden hatten. Das Ergebnis: 43 Prozent der behandelten Patienten waren abstinent, 45 Prozent hatten einen Rückfall erlitten. "Unter den Rückfälligen befanden sich vor allem diejenigen, die schon vorher einen stationären Entzug gemacht hatten und die schwierige Lebenssituationen meistern mussten", sagt Soyka.Unter dem Strich betrachten Suchtmediziner den ambulanten Entzug als ähnlich erfolgreich wie den stationären Entzug. "Darüber hinaus ist er kostensparend für die Kassen", sagt Soyka. Allerdings eigne sich nicht jeder Alkoholkranke für die ambulante Methode. "Wer ohne Klinikaufenthalt vom Alkohol loskommen will, braucht ein intaktes soziales Umfeld", sagt Soyka. "Schon allein, um täglich einen guten Grund für ein Leben ohne Alkohol vor Augen zu haben." 77 Prozent der Probanden in der Münchner Studie lebten in einer festen Beziehung. 81 Prozent hatten einen festen Arbeitsplatz.Auch die Patienten in der Charité entsprechen nicht dem Klischee des verwahrlosten Alkoholikers. "Nur die wenigsten der etwa zwei Millionen Alkoholkranken in Deutschland leben auf der Straße", betont Jakob Hein. Neben dem sozialen Umfeld ist die Gesundheit der Betroffenen entscheidend dafür, ob ein ambulanter Entzug möglich ist. "Alkoholabhängige, die unter einer schweren Leberzirrhose oder unter Wahnvorstellungen leiden, sollten sich für die Entgiftung lieber in eine Klinik einweisen lassen", sagt Hein.Wie erfolgreich unterschiedliche Therapieschemata sind, wenn Süchtige stationär dem Alkohol abschwören, hat der Schweizer Psychologe Franz Moggi von der Universitätsklinik für Klinische Psychiatrie in Bern untersucht. Er hat die Therapieerfolge von 12 Schweizer und 15 US-amerikanischen Programmen miteinander verglichen. Dafür befragte er je 358 Patienten in den USA und in der Schweiz.Ähnlich wie in Deutschland dauert der stationäre Entzug mit anschließender Entwöhnungstherapie in der Schweiz bis zu drei Monate. In den Vereinigten Staaten hingegen bleiben die Patienten nur einen Monat lang in einer Klinik. Nach der Entlassung durchlaufen sie vor allem suchtbezogene Therapien - etwa das 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker. "Es geht dabei zum Beispiel darum, wie die Betroffenen damit umgehen, wenn die Kollegen sie beim Betriebsausflug auffordern, mitzutrinken", erläutert Moggi.Die Resultate der Vergleichsstudie überraschten: Ein Jahr nach Beginn der Therapie waren sowohl in den USA als auch in der Schweiz 40 Prozent der Befragten abstinent, 60 Prozent hatten einen Rückfall erlitten. "Wie lange die Patienten in stationärer Behandlung sind, scheint nicht allein darüber zu entscheiden, ob jemand trocken bleibt oder nicht", folgert der Psychologe.Allerdings beugt die längere Betreuung offenbar psychischen Folgeerkrankungen vor. Die Befragten in den USA litten nämlich häufiger als die Schweizer Patienten unter Angsterkrankungen und Depressionen. Moggi vermutet, dass die Suchttherapien in den USA das Thema Alkohol zu sehr in den Vordergrund rücken. "Die Aufarbeitung persönlicher und psychischer Probleme darf nicht auf der Strecke bleiben", mahnt der Schweizer Psychologe.Er plädiert auch dafür, Alkoholikern nach dem körperlichen Entzug und der Entwöhnung das Medikament Acamprosat zu geben. Das Mittel dämpft die Übererregbarkeit des Gehirns, die durch den Botenstoff Glutamat ausgelöst wird. Alkoholkranke weisen besonders viel von diesem Botenstoff im Gehirn auf - der Grund dafür ist unklar. Offenbar lässt sich mit dem Mittel die Lust auf Alkohol in den Griff bekommen. "Das Risiko, rückfällig zu werden, ist dann geringer", sagt Moggi.Teures MedikamentDie meisten Ärzte verschreiben Acamprosat bisher jedoch nur zögerlich. Erst wenn ein Patient schon mehrere Rückfälle hinter sich hat, wird das Mittel eingesetzt, hat Moggi herausgefunden. "In vielen Arztpraxen ist das auch eine Kostenfrage. Das Mittel ist relativ teuer und droht rasch das Budget zu sprengen", sagt Jakob Hein. An der Charité finde Acamprosat jedoch häufig Verwendung. Allerdings hilft es nicht jedem gleich gut. "Nur ein Teil der Patienten spricht auf das Medikament an. Bei den übrigen bleibt es wirkungslos", ist Heins Erfahrung.Über die Wirksamkeit von Acamprosat im Rahmen eines ambulanten Entzugs gibt es bislang kaum Studienergebnisse. Das wird sich bald ändern. Derzeit widmet sich eine Forschergruppe um Wolfgang Wölwer von der Psychiatrischen Klinik der Universität Düsseldorf diesem Thema. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, wie gut Acamprosat wirkt, wenn es im ambulanten Entzug parallel zu einer Verhaltenstherapie verabreicht wird. Mehr als dreihundert Probanden haben die Düsseldorfer bereits für die Teilnahme an der Studie gewinnen können. Wölwer: "Mit Ergebnissen rechnen wir noch in diesem Jahr."Drug and Alcohol Dependence, Bd. 80, S. 83------------------------------In den Fängen des AlkoholsMehr als 250 000 Menschen sind in der Hauptstadt vom Alkohol abhängig und behandlungsbedürftig. Das schätzt die Berliner Landesstelle gegen die Suchtgefahren.Wegen alkoholbedingter Krankheiten werden in Berlin alljährlich rund 20 000 Patienten im Krankenhaus behandelt. Jedes Jahr sterben in Berlin mehr als 2 000 Menschen an den Folgen ihres übermäßigen Alkoholkonsums - ein Drittel von ihnen sind Frauen. Bei Männern zwischen 25 und 55 Jahren ist Alkoholismus sogar die häufigste Todesursache.Beim Berliner Krisendienst können Alkoholabhängige Rat einholen. Tel. (030) 390 63 60.Einen ambulanten Entzug bietet die Charité-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an. Informationen unter Tel. (030) 450-517 095 oder per E-Mail: suchtberatung@charite.de------------------------------Foto: Bier: ein harmloser Genuss für die meisten, für Alkoholiker eine gefährliche Verlockung.------------------------------Foto: Leeres Glas, voller Erfolg: In der Therapie lernen Entzugswillige, alkoholischen Versuchungen zu widerstehen.