Anja Rücker und Grit Breuer suchen nur in der Staffel gemeinsame Wege: Ein Duell auf Distanz
SEVILLA, 27. August. Es muss ein großer Schock für Grit Breuer gewesen sein. Als sie auf die Zielgerade einbog, hatte sie den Anschluss verloren. Gewöhnlich liegt sie dort weit vorne, und oft schon konnte sie mit formidablen Endspurts so manches 400-m-Rennen gewinnen. Diesmal sah sie nur die Fersen der Konkurrenz. "Dann habe ich resigniert", sagte Breuer. "Das war der schwärzeste Tag meiner Karriere, ich war vom Kopf her k. o., gar nicht mal körperlich."Eigentlich sei alles für ein großes Duell mit der Australierin Cathy Freeman gerichtet, hatten Breuer und ihr Trainer Thomas Springstein irrtümlich geglaubt. "Ich kann nicht sagen, woran es gelegen hat, ich bin ratlos", erklärte Breuer am Tag danach.Eine volle Sekunde hatte sie auf Rang sieben gegenüber Freeman verloren; was womöglich noch mehr schmerzte, waren die 93 Hundertstel Rückstand auf ihre Teamkollegin Anja Rücker, die überraschende Silbermedaillengewinnerin, die "erschrocken" über Breuers Leistung war."Grit hat mir gratuliert"Grit Breuer brauchte einige Minuten, um zu begreifen, was sich im Stadio Olimpico abgespielt hatte. Dann taumelte sie in Richtung Ausgang an der auf der Bahn sitzenden Anja Rücker vorbei und touchierte mit der Hand nur leicht deren Haupt. Später, vor Fernsehkameras, reichte sie ihrer Rivalin artig die Hand. "Grit hat mir gratuliert", sagte Rücker, "und ich denke, sie freut sich auch."Grit Breuer ist momentan nicht mehr Deutschlands beste Rundenläuferin, dies zu begreifen, fiel auch ihrem Lebensgefährten schwer. Am Donnerstag saß Thomas Springstein, der umstrittene Coach, allein an einem Tisch im deutschen WM-Club und beobachtete aufmerksam, wie sich die Reporter um Anja Rücker drängten. Natürlich hat Springstein dieser Medienauflauf geschmerzt.Es lässt sich nicht behaupten, zwischen Breuer und Rücker würde ein Streit schwelen. Wohl aber ist eine gewisse Distanz zu spüren, was nicht nur für die Athleten, sondern auch deren Trainer gilt. Breuer ist Profi, Rücker arbeitet halbtags als Justizangestellte im Oberlandesgericht Jena. Springstein gehört zum deutschen Trainerstab. Rückers Betreuerin Karin Balzer aber, 1964 Olympiasiegerin über 80 Meter Hürden, musste auf eigene Kosten anreisen obgleich sie doch zwei Medaillenkandidaten (Rücker und ihren Sohn Falk) ins Team gebracht hat.Ob sie Mitleid empfinde für die arg gestrauchelte Breuer, wurde Anja Rücker gefragt. "Es war für mich auch eine Umstellung, als Grit damals nach ihrer Sperre wieder lief. Plötzlich war ich wieder die Nummer zwei. Sie muss das jetzt selbst verarbeiten, ich weiß nicht, was sich Grit für Erwartungen stellt", gab sie zur Antwort.Für Anja Rücker lief bislang alles glänzend in Sevilla. Drei Mal stellte sie eine persönliche Bestzeit auf. "Ich habe die Läufe genossen", sagte sie: "Ich fühle mich wie auf einer Glückswolke, ich hatte jedesmal das Gefühl, dass ich noch schneller laufen kann."Vielleicht realisierte sie zu spät, dass eine reelle Chance auf den Titel bestand. Denn zunächst äußerte Rücker, sie sei froh gewesen über die äußere Bahn acht, weil sie dort keine Kontrahentin im Blick hatte und sich auf ihren Rhythmus konzentrieren konnte. Nachdem sie aber einige Male die Bilder des Zielspurts gesehen hatte, änderte sie ihre Meinung: "Bahn acht war ein Nachteil für mich", sagte sie nun. Denn andernfalls hätte sie, die zum Schluss im Vergleich mit der Australierin den lockeren Eindruck hinterließ, die auf fünf laufende Freeman eher gesehen.Wechsel zu Karin BalzerRückers Steigerung hat Gründe. Nach einer bescheidenen Saison 1998, in der sie wegen eines handgroßen Blutergusses auf dem Oberschenkel auf die EM in Budapest verzichten musste, entschied sie sich für einen radikalen Neubeginn. "Es gab die Alternative, mein Leben entweder radikal zu ändern oder so weiter zu machen wie bisher." Nach zehn Jahren Zusammenarbeit mit Trainer Gerd Stecher wechselte sie zu Karin Balzer, unter deren Anleitung sie nun abwechselnd in Jena und Chemnitz trainiert, und mit deren Sohn Falk sie seit einigen Monaten liiert ist. "Ich musste einfach reagieren, ich war auf dem Tiefpunkt meiner Karriere, alles war total ausgereizt", sagte Rücker.Nun leidet sie gern an Reizüberflutung einer ganz anderen Art. "Renn um deine Aussteuer", hatte ihr Falk Balzer vor dem 400-m-Finale gesagt. 30 000 Dollar waren vorerst der Lohn, und wenn nicht alles täuscht, dann kommen am Sonntag noch einige tausend Dollar hinzu. Denn die deutsche Rundenstaffel mit Rücker und Breuer ist Titelverteidiger und visiert auch diesmal eine Medaille an. "Maximal Rang drei" sei möglich, glaubt Thomas Springstein. Anja Rücker erinnert sich gern an jenen Augustabend 1997 in Athen, als die Schlussläuferin Grit Breuer eine Lücke erspäht hatte und ihren Opponenten listig enteilt war. Die Staffel wurde hernach zur "Mannschaft des Jahres" gewählt.Nicht auf der Schlussposition"Es gibt viele Läuferinnen", sagt Rücker, "die wachsen in der Staffel über sich hinaus. Grit war in Athen das beste Beispiel dafür." Anja Rücker, die neue Nummer eins, beansprucht nun nicht etwa die Schlussposition. Sie überlässt der erfahreneren Grit Breuer diesen Part. "Ich denke, die Staffel wird wie 1997 laufen. Da ist alles eingespielt, das hat sich bewährt."400 METER Die Hälfte des Quartetts // Anja Rücker, geb. 20. Dez. 1972 in Lobenstein. WM-Zweite 1999 in 49,74 s, Staffel-Weltmeisterin 1997. Bestzeit: 49,74 s (in Sevilla). Verein: TuS Jena; Trainerin: Karin Balzer.Die deutsche Staffel gewann 1997 in Athen mit Anke Feller, Uta Rohländer, Anja Rücker und Grit Breuer vor den USA und Jamaika. DDR-Staffeln siegten 1983 und 1987.Grit Breuer, geb. 16. Feb. 1972 in Röbel. WM-7. 1999, Staffel-WM 1997, Hallen-WM 1999. Bestzeit: 49,42 s (1991, vor der Dopingsperre). SC Magdeburg; Trainer: T. Springstein.