Anthony Davis wurde wegen eines Mordes zwei Mal verurteilt und zwei Mal freigesprochen. Ob er schuldig ist, weiß nur er: Eine Frage der Erinnerung

LEIPZIG, 22. April. Um 13.36 Uhr greift Rechtsanwalt Hansgeorg Birkhoff zum Handy und wählt die Nummer der Untersuchungshaftanstalt Moabit. Der Anruf wird durchgestellt in die Buchbinderei. Er ist für den Gefangenen Anthony Davis, inzwischen 41 Jahre alt. "Hallo, Herr Davis", sagt Birkhoff. "Sie sind eben frei gesprochen worden." Man weiß nicht, wie der Mann am anderen Ende reagiert, ob er fassungslos das Telefon anstarrt, ob er lacht oder weint, als er hört, was die Richter zweihundert Kilometer von Berlin entfernt entschieden haben. Er durfte nicht bei der Urteilsverkündung dabei zu sein.Anthony Davis kennt Urteilsverkündungen, er hat so viele erlebt wie kaum ein anderer. Er weiß, wie es ist, wenn man zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wird. Am 13. Februar 1997 sprach ihn das Berliner Landgericht wegen Mordes an dem Dahlemer Millionär Gerhard Malicha und wegen versuchten Mordes an seiner früheren Verlobten Simone B. schuldig. Er weiß auch wie es ist, wenn man freigesprochen wird. Er hat es vor vier Jahren erlebt. Am 8. Februar 1999 sprach ihn eine andere Kammer des Berliner Landgerichts frei und entließ ihn aus dem Gefängnis. Da hatte er sich zu früh gefreut. Weil der Bundesgerichtshof in Leipzig die Urteile aufhob, wurde sein Prozess noch ein drittes Mal aufgerollt. Als freier Mann kam Anthony Davids zur Gerichtsverhandlung und hatte wohl wieder mit einem Freispruch gerechnet. Dann wurde er im Januar 2002 erneut zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Anwälte gingen in Revision. An diesem Donnerstag nun hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes in Leipzig ein drittes Mal über den Fall entschieden. Ein letztes Mal. Die lebenslange Haftstrafe wurde aufgehoben. Anthony Davis ist wieder ein freier Mann.Er hat gleich seine Sachen aus der Kleiderkammer geholt und das Gefängnis Moabit am Nachmittag verlassen. Er ist zu einer Freundin gezogen, weil er keine Wohnung mehr hat. Mit kurzen Unterbrechungen hat er fast acht Jahre in Moabit verbracht. Kaum ein anderer Fall hat so oft und so intensiv das oberste deutsche Strafgericht beschäftigt. "Es ist ein höchst ungewöhnlicher Fall", sagte die Senatsvorsitzende Monika Harms. "Wir haben sehr, sehr lange um eine Entscheidung gerungen."Bis zum Donnerstag hatte kaum jemand mit einem Freispruch gerechnet. Die Tat liegt neun Jahre zurück. Am Nachmittag des 26. August 1995 gegen 14.45 Uhr fand eine Krankenpflegerin in der Dahlemer Villa von Gerhard Malicha zwei Schwerverletzte. Im Erdgeschoss kauerte ihre Kollegin Simone B. vor einem Tisch, die Hände über dem Kopf, um sich herum eine Lache Blut. Sie war kaum ansprechbar, jemand hatte sie auf den Kopf geschlagen. Oben im ersten Stock lag der an Parkinson leidende Malicha mit schwersten Kopfverletzungen im Bett. Malicha starb zwei Wochen später. Simone B. überlebte mit schweren Hirnschädigungen.Sie lag lange im Koma, litt immer wieder unter epileptischen Anfällen. Besucher wurden aufgefordert, mit ihr nicht über die Tat zu sprechen, bevor die Polizei sie vernimmt. Eine Polizistin bewachte sie. Ihre Eltern besuchten sie fast täglich. Sie könne sich nicht erinnern, hat Simone B. den Polizisten zunächst erzählt, als sie vernehmungsfähig war. Dann sprach sie von einem großen, kräftigen Mann. Wochen später sagte sie plötzlich "Anthony wars."Anthony Davis wurde verhaftet. Simone B. war lange Zeit seine Verlobte. Anthony Davis ist US-Amerikaner, geboren in Pennsylvania. Er hat schwarze Haut und eine wilde Rastamähne. Nach dem High-School-Abschluss machte er eine Ausbildung zum Zimmermann. Dann, 1983, verpflichtete er sich für mehrere Jahre zur Armee. Nach dem Grundwehrdienst wollte er nach Berlin. 1987, als seine Armeezeit zu Ende war, blieb er und schlug sich irgendwie durch. Er fuhr Pakete und Pizzas aus, arbeitete als Dachdeckergehilfe und half als Barkeeper. Anthony Davis gilt als selbstverliebt, als aggressiv und sehr eifersüchtig. Auch hatte er nie Geld, dafür ganze Berge Schulden. Eine Arbeitsstelle verlor er, weil er sich von Kollegen immer wieder Geld lieh und es nicht zurück zahlte. Im Frühjahr 1993 lernte er Simone B. kennen, kurze Zeit später verlobten sie sich. Simone B. ist eine attraktive junge Frau und nahezu das Gegenteil von Anthony Davis. Gutachter schilderten sie als korrekt und solide, mit klaren Zielen und dem Wunsch nach einem bürgerlichen und finanziell abgesicherten Leben. Sie arbeitete damals auch in einer Bar, ließ sich später zur Physiotherapeutin ausbilden und verdiente sich nebenbei als Pflegerin bei Malicha etwas dazu. Sie war sehr verliebt in Anthony Davis, so sehr, dass sie es hinnahm, dass er Nächte lang weg blieb und sie mit anderen Frauen betrog. Sie organisierte sein Leben, verwaltete sein Geld. Sie ließ zu, dass er sie schlug. Sie wollte sich oft von ihm trennen. Weil er sie anflehte, es nicht zu tun, ließ sie es immer wieder sein. Die Ermittler nahmen an, dass Anthony Davis sich an Simone rächte, weil sie ihn endgültig verlassen wollte. Er soll durch die offene Terrassentür in die Villa gekommen sein und mit einem Baseballschläger auf Simone eingeschlagen haben. Dann soll er Malicha oben im ersten Stock husten gehört und diesen ebenfalls erschlagen haben, weil der ihn hätte verraten können. So argumentierten die Richter bei ihren Verurteilungen zu lebenslänglicher Haft. Die Tat passte irgendwie zu Anthony Davis. Er hatte schon einmal aus Eifersucht eine Freundin mit einem Baseballschläger verprügelt. Auf eine andere Frau war er im Streit mit Schlägen und Tritten losgegangen. Und dann hat er sich auch noch so merkwürdig verhalten. Er hat erzählt, er habe zur Tatzeit Pizza ausgefahren, was nicht stimmte. Und dann war da ja noch dieser Satz von Simone B., als sie aus dem Koma erwachte. "Anthony wars."Aber konnte man ihr glauben? Hat Simone B., deren Hirn durch die Verletzungen erheblich geschädigt wurde, sich wirklich erinnert? Oder hat sie in ihrem Unterbewusstsein nur den Verdacht anderer gespeichert, die sich an ihrem Bett unterhielten, während sie im Koma lag? Und warum hat sie zuerst gesagt, sie könne sich nicht erinnern, und dann etwas anderes behauptet?Simone B. leidet noch immer an den Folgen der Verletzung. Sie lebt jetzt in einer Wohnung gleich neben ihren Eltern. Sie kann nicht arbeiten, sie braucht noch immer eine Therapie. Vor allem der Satz "Anthony wars" beschäftigte die Gutachter. Hirnforscher hielten Vorträge über Ursache und Ausmaß von Erinnerungslücken, über Abrufstörungen, Amnesien und und mögliche Manipulationen an einem Gedächtnis. Es ging um Prozente und Wahrscheinlichkeiten des Ausmaßes ihrer Erinnerungen.Aber noch andere Dinge waren ungewöhnlich in diesem Fall. Malicha selbst zum Beispiel. Er war ein Mann, der seinen Reichtum gern zur Schau stellte. Er hat Millionen mit dem Handel von Kohle und Heizöl verdient. Malicha lebte getrennt von Frau und Töchtern und galt als ausgesprochen unangenehm im Umgang mit Menschen. Er kündigte sein Pflegepersonal wie es ihm passte und stellte es eine Stunde später wieder ein. Er hatte enge Kontakte ins Rotlichtmilieu, früher ging er in Sexklubs. Als er bettlägerig wurde, ließ er sich regelmäßig von einer Prostituierten in seiner Villa besuchen.Kurz vor der Tat war er in Begleitung einer Pflegerin in die Schweiz gefahren und hob dort eine Million Mark von einem seiner Konten ab. Den Verbleib von 250 000 Mark konnten die Ermittler klären, der Rest des Geldes ist verschwunden. Anthony Davis kann das Geld nicht genommen haben. Denn nach Aussagen von Zeugen hat nach dem Überfall auf Malicha aus dem Tresor nichts gefehlt. Bis heute ist nicht geklärt, was an jenem Sonnabend vor neun Jahren in der Dahlemer Villa wirklich geschehen ist. Es gab keine Einbruchspuren. Der Täter muss über die Terrassentür, die meist offen stand, ins Haus gekommen sein. Sämtliche Blutspuren wurden analysiert. Zu Anthony Davis passte keine. Eine Blutspur an der Sohle seiner Springerstiefel war zu flüchtig, man konnte nicht einmal erkennen, ob es Tier- oder Menschenblut war. Auch gab es nirgendwo Fingerabdrücke von ihm, und auch ein Tatwerkzeug wurde nie gefunden. Mit einem Gegenstand, rund und ohne Kanten, soll auf Malicha und Simone B. eingeschlagen worden sein. Eine dicke Flasche hätte es gewesen sein können. Oder eben ein Baseballschläger.Die Richter des 5. Leipziger Strafsenats haben einen weiteren Gutachter gehört. Das ist ebenfalls ungewöhnlich. "Wir wussten uns nicht anders zu helfen, als uns weiter sachkundig zu machen", sagt die Vorsitzende Monika Harms. Sie beauftragte Yves von Cramon, Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für Neuropsychologische Forschung. Er hat sich die Expertisen der anderen Gutachter angesehen. Er kam zu dem Schluss, dass man keine eindeutigen Feststellungen über die Qualität von Simone B.s Erinnerungen an die Tat treffen kann. Ein "scheinbares Erinnerungsbild" sei "nicht ganz von der Hand zu weisen". Aber mehr eben nicht.Die Richter hätten sich gefragt, so die Senatsvorsitzende Harms, warum Simone B. zunächst ganz andere Angaben zum Tathergang gemacht hat als später. Warum ausgerechnet ihre letzten Angaben richtig und die ersten falsch sein sollen - diese Frage hätten die Berliner Richter bei ihrem letzten Urteil nicht ausreichend geklärt. "Also musste der Senat selbst durch einen Freispruch entscheiden", sagt die Vorsitzende. Weil es keine tragfähige Stütze für eine andere Entscheidung gebe. "Was damals tatsächlich geschah und welche Rolle er spielte, weiß nur er allein."Hinten im Saal sitzt ein gebeugter Mann und hat Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Es ist der Vater von Simone B. Er war bei jedem Prozess gegen Anthony Davis dabei. Er hat gehofft, dass es beim Lebenslänglich bleibt. "Wenn Anthony Davis schuldig ist", sagt Monika Harms, "muss er das vor seinem Herrgott verantworten."------------------------------"Wenn Anthony Davis schuldig ist, muss er das vor seinem Herrgott verantworten." Monika Harms, Vorsitzende Richterin------------------------------Foto: Anthony Davis. Er hat gleich seine Sachen aus der Kleiderkammer geholt und das Gefängnis Moabit am Nachmittag verlassen.