Antidepressiva erhöhen die Suizidgefahr. Auf die Mittel zu verzichten, ist aber auch riskant: Die dunkle Seite der Glückspillen

Die 49-jährige Ärztin hatte noch nie daran gedacht, sich umzubringen. Als sie jedoch ein Medikament gegen Depressionen einnahm, entwickelte sie so starke Suizidgedanken, dass sie schnell den Notarzt aufsuchte. Das Mittel wurde abgesetzt und der Wunsch zu sterben war wie weggeblasen.Solche Fälle kommen immer wieder vor, obwohl sie paradox erscheinen. Eigentlich sollten Antidepressiva die Suizidgefahr senken. Denn sie unterdrücken Depressionen und etwa die Hälfte der Selbsttötungen wird aus einer Depression heraus begangen. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter."Groß angelegte Studien zeigen, dass in den ersten sechs Wochen einer Antidepressiva-Therapie die Selbstmordgefährdung nicht sinkt. Sie bleibt ähnlich hoch wie in Vergleichsgruppen, die lediglich ein Scheinmedikament erhalten", sagt Daniel Hell, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.In anderen Untersuchungen stellten Forscher sogar eine erhöhte Suizidalität bei Menschen fest, die anfangen Antidepressiva einzunehmen. Zu erklären ist das Phänomen vermutlich dadurch, dass manche Patienten in der ersten Zeit der Therapie immer noch niedergeschlagen sind und sich den Tod wünschen. Unbehandelt hatten sie nicht die Kraft, diese Pläne umzusetzen. Die Medikamente aktivieren die Patienten jedoch so stark, dass sie eher fähig sind, sich umzubringen.Für Experten wie Hell sind das beunruhigende Befunde. Schließlich werden Antidepressiva häufig verschrieben - nicht nur gegen Schwermut, sondern auch gegen Ängste und andere psychische Störungen. Vor zwei Jahrzehnten kamen die heute gängigen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer auf den Markt. Der bekannteste Vertreter ist der von der Pharmafirma Lilly entwickelte Wirkstoff Fluoxetin, der in den USA unter dem Markennamen Prozac verkauft wird; in Deutschland heißt er Fluctin.Besonders groß ist die Gefahr offenbar für Heranwachsende. Bei den Verantwortlichen für die Arzneimittelsicherheit herrscht daher Alarmstimmung. In den USA verlangt die Arzneimittelbehörde FDA seit gut drei Jahren schwarz gerahmte Hinweise auf den Beipackzetteln der Medikamente, die davor warnen, dass die Mittel bei Minderjährigen zu Suizidgedanken und Suizidversuchen führen können. Vor kurzem dehnte die FDA aufgrund neuer Erkenntnisse die Warnung auch auf die Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen aus.Auch in Deutschland wurden vor zwei Jahren ähnliche Hinweise auf Antidepressiva zur Pflicht. Gewarnt wird bislang nur vor erhöhter Suizidgefahr bei Jugendlichen unter 18 Jahren. Zugelassen sind die Mittel für diese Altersgruppe ohnehin nicht, Ärzte dürfen sie unter bestimmten Umständen aber verschreiben - Off-Label-Use nennt sich diese Praxis.Erstmals bekannt wurde das erhöhte Selbstmordrisiko durch die Glückspillen vor vier Jahren. Damals hatten Fachleute der britischen Arzneimittelbehörde Studien zu mehreren Mitteln neu analysiert und für Minderjährige eine erhöhte Suizidneigungen festgestellt.Den jüngsten Beleg für die Gefahr lieferte vor kurzem eine Zusammenfassung von 27 Studien im Fachmagazin Journal of the American Medical Association (Jama). Nach dieser bislang umfassendsten Auswertung hatten drei Prozent der Jugendlichen, die Antidepressiva nahmen, Suizidgedanken oder sie hatten sogar versucht sich umzubringen. In der Placebogruppe waren es zwei Prozent. Allerdings hatte sich niemand tatsächlich umgebracht.Ärzte und Eltern stehen nun vor der Frage, ob Kinder mit Depressionen und anderen Störungen wegen des Selbstmordrisikos auf Antidepressiva verzichten sollten. Genau davor warnt jedoch David Brent von der University of Pittsburgh, einer der Autoren der Jama-Auswertung. "Ich halte es für weit, weit gefährlicher, Kinder und Jugendliche mit diesen Krankheiten nicht zu behandeln", sagt der Psychiatrieprofessor. Auch die FDA hebt in ihrem Warnhinweis hervor, dass Depressionen und ähnliche Störungen zu den wichtigsten Suizidursachen zählen.Der deutsche Depressions-Experte Ulrich Hegerl von der Ludwig-Maximilians-Universität München hält ebenfalls nichts davon, auf Antidepressiva ganz zu verzichten. Im Einzelfall lasse sich jedoch nie sicher vorhersagen, wie ein Patient auf ein Antidepressivum reagiere. "Die Hinweise auf eine erhöhte Suizidalität sollten Anlass zu besonderer Vorsicht sein", sagt der Psychiatrieprofessor. Er empfiehlt Ärzten zu Beginn der Behandlung einen wöchentlichen Kontakt mit den jungen Patienten.In den USA gibt es neuerdings sogar Befürchtungen, dass die Warnungen kontraproduktiv sind. Die drastischen Hinweise ließen die Ärzte seltener zum Rezeptblock greifen und hatten womöglich zur Folge, dass mehr Menschen sich tatsächlich umbrachten, berichtet Brent. Wie sich jüngst herausstellte, stieg die Suizidrate unter US-amerikanischen Minderjährigen 2004 - in diesem Jahr wurden die schwarz umrandeten Warnhinweise angebracht - um 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Davor war die Rate ein Jahrzehnt lang gesunken. "Hätte man meinen Sohn oder uns über das Risiko informiert, das das Absetzen des Medikamentes birgt, wären wir nicht hier", zitierte die New York Times die Aussage einer Mutter bei einer Expertenanhörung der FDA. Ihr 22-jähriger Sohn erhängte sich, nachdem er sein Antidepressivum abgesetzt hatte. Bewiesen ist der Zusammenhang zwischen dem geringeren Absatz an Antidepressiva und der erhöhten Suizidrate allerdings nicht.Zurzeit überdenken Experten jedoch ohnehin die Therapie von Depressionen. Denn die Heilungserfolge von Fluoxetin und den anderen Mitteln sind eher bescheiden. Nach der jüngsten Studienauswertung sprechen gerade 61 Prozent der depressiven Minderjährigen darauf an, was nur knapp über der 50-prozentigen Besserungsrate bei der Einnahme von Placebos liegt.Besser zu wirken scheinen die Arzneien in Kombination mit einer Psychotherapie. Darauf deutet zumindest die große amerikanische TADS-Studie (Treatment for Adolescents with Depression Study) hin, die den Effekt der kognitiven Verhaltenstherapie untersucht hat. Dabei versuchen die Therapeuten, die Jugendlichen zu aktivieren. Sie sollen wieder mehr Angenehmes unternehmen, da ein Mangel an positiven Erlebnissen Depressionen fördert. Die Patienten lernen außerdem, negative Gedanken zu hinterfragen.Die Kombination einer Psychotherapie mit Fluoxetin half am schnellsten. Doch nach 36 Wochen hatte die alleinige Psychotherapie genauso viel Erfolg. Außerdem hielt die Psychotherapie Suizidgedanken und Suizidversuche in Schach. In der reinen Medikamentengruppe hegten hingegen zehn Prozent der Probanden Selbstmordgedanken.Wie der Effekt der Psychotherapie zustande kommt, sei noch unklar, sagt Studienleiter John March von der Duke University in North Carolina: "Die kognitive Verhaltenstherapie hat irgendetwas an sich, das nicht nur die Depressionen bessert, sondern das zusätzliche Suizidalitätsrisiko durch moderne Antidepressiva praktisch beseitigt."Jama, Bd. 297, S. 1683------------------------------Hilfe bei SchwermutEine Fülle von Informationen über depressive Erkrankungen bieten die Internetseiten des Kompetenznetzes Depression und des Bündnisses gegen Depression.Das Kompetenznetz Depression ist ein bundesweites Netzwerk, das die Forschung vorantreiben und die Versorgung depressiver Patienten optimieren will. Auf der Seite finden sich ein Selbsttest sowie Listen von Krisendiensten und Kliniken.Im Bündnis gegen Depression engagieren sich zahlreiche Städte und Kommunen auf lokaler Ebene. (abg.)Die Internetadressen:www.buendnis-depression.dewww.kompetenznetz-depression.de