Der Freiherr, der sich vor 80 Jahren mit Hitler in die Luft sprengen wollte
21. März 1943: Wie Rudolf-Christoph von Gersdorff ein Attentat auf den „Führer“ vorbereitete, wer ihn dabei unterstützte und warum er scheiterte.

Vielleicht gibt es ja eine andere Lösung. Mit militärischem Blick erkundet Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff den Ort, an dem er am kommenden Tag Geschichte machen will.
Im mit Blumen und Lorbeeren geschmückten Lichthof des Heeresmuseums, wo die Feier zum Heldengedenktag stattfinden wird, zimmern Handwerker an der Holztribüne für die Ehrengäste. In den Ausstellungsräumen, die Beutegut aus dem seit fast zwei Jahren tobenden Krieg mit der Sowjetunion zeigen, legen Arbeiter letzte Hand an. Über alles und allen wachen Sicherheitskräfte.
Hier, im Zeughaus Unter den Linden, wird am Sonntag, den 21. März 1943, Adolf Hitler erwartet. Es ist sein erster öffentlicher Auftritt in Berlin seit der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad Ende Januar. Zwischen dem späten Vormittag und dem frühen Nachmittag soll der „Führer“ eintreffen.
Dann wird er im Innenhof unter dem Glasdach eine Gedenkrede halten, in der er die deutschen Gefallenen des vergangenen und des gegenwärtigen Weltkriegs ehrt, danach die Ausstellung besuchen und abschließend vor der Neuen Wache eine Parade abnehmen.
Unter den Gästen wird auch Freiherr von Gersdorff sein. Der fast 38-jährige Oberstleutnant, der in der Heeresgruppe Mitte dient, ist als Experte zur Gedenkfeier abkommandiert: Er soll Hitler und seiner Gefolgschaft, zu der auch Hermann Göring und Heinrich Himmler gehören werden, die Ausstellungsstücke erläutern.
Nein, es gibt keine andere Lösung. Bei seinem Erkundungsgang im Zeughaus stellt Gersdorff fest, dass es unmöglich ist, hier unbemerkt eine Sprengladung anzubringen. „Mir wurde (…) endgültig klar“, schreibt er in seinen Erinnerungen („Soldat im Untergang“, 1977) „daß ein Attentat nur durchzuführen war, wenn ich die Sprengladung bei mir trug, um mich in unmittelbarer Nähe Hitlers mit ihm zusammen in die Luft zu sprengen.“

Seit Herbst 1941 schart Generalmajor Henning von Tresckow im Stab der Heeresgruppe Mitte Gegner des NS-Regimes um sich, allen voran jüngere Offiziere wie Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff oder Oberleutnant Fabian von Schlabrendorff. Der Kreis um Tresckow wartet nur auf den richtigen Zeitpunkt, Hitler umzubringen.
Im März 1943 ist es soweit: Bis tief in die Bevölkerung hinein ist die Einsicht gesickert, dass der „Führer“ nicht unfehlbar ist – die 6. Armee war in Stalingrad untergegangen, der Afrikafeldzug verloren, der U-Boot-Krieg ebenso.
„Wenn irgendwann, war jetzt jener psychologisch richtige Augenblick gekommen, auf den so viele Generäle in so vielen Gesprächen verwiesen hatten“, schreibt der Historiker Joachim Fest („Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli“, 1994). Jedoch: Die meisten Generäle, allen voran Günther von Kluge, den Tresckow immer wieder vergeblich auf die Seite des militärischen Widerstands zu ziehen versuchte, vermochten es nicht, sich von Tradition, Gehorsam und Eid zu lösen.
Den Wankelmut der Offiziere erklärte Hauptmann Hermann Kaiser, ein Mitverschwörer vom 20. Juli 1944, so: „Der Eine will handeln, wenn er Befehl erhält, der Andere will befehlen, wenn gehandelt wird.“
Für viele Widerstandskämpfer in den Reihen der Wehrmacht war der Eid erschlichen, wenn nicht „erzwungen“ (Gersdorff). Reichswehrminister Werner von Blomberg hatte am 2. August 1934, dem Todestag von Reichspräsident Paul von Hindenburg, verfügt, alle Offiziere und Mannschaften auf den „Führer Adolf Hitler“ zu vereidigen, was widerrechtlich war; und die Soldaten hatten noch am selben diesen Eid geleistet, ohne es zu wissen.
Der Russlandfeldzug war Auslöser für den Widerstand
An jenem Augusttag ließ sich auch Freiherr von Gersdorff, damals Regimentsadjudant bei einer Kavallerieeinheit, vereidigen. Erst hielt Gerd von Rundstedt als Oberbefehlshaber des Gruppenkommandos I in Berlin eine kurze Gedenkrede auf Hindenburg, danach spielte eine Kapelle das Lied „Der gute Kamerad“, schließlich erschallte das Kommando: „Regimentsweise zur Eidesleistung die rechte Hand zum Schwur erheben lassen!“
In der Annahme, „daß wir erneut den uns bekannten Eid auf Deutschland und das deutsche Volk leisten sollen“, wie Gersdorff schreibt, hoben alle die rechte Hand. Doch sie schwörten nicht, „daß ich meinem Volk und Vaterland allzeit treu und redlich dienen (…) will“, sondern „daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht unbedingten Gehorsam leisten (…) will“.
Den Vereidigten dämmerte nur langsam, was da passiert war. „Die Raffinesse und Diabolik, mit der Hitler die Soldaten der deutschen Wehrmacht an seine Person gebunden hatte, war in ihrer Konsequenz damals nicht erkennbar“, schreibt Gersdorff. „Einige Jahre später wurde sie für alle zum Widerstand entschlossenen Soldaten zu Hauptrechtfertigung für den Bruch des erzwungenen Eides.“
Den Weg in den Widerstand säumten die Erfahrungen im Russlandfeldzug: die Verbrechen von Soldaten, die nicht mehr zwangsläufig unter die Militärgerichtsbarkeit, sondern stattdessen regelmäßig unter den Tisch von Vorgesetzten fielen, zum Beispiel eines Divisionskommandanten; die Liquidierung von Politoffizieren der Roten Armee (Kommissarbefehl); die Massenexekutionen von Juden, zum Beispiel die Ermordung von mehreren Tausend Männern, Frauen, Kindern und Säuglingen im Oktober 1941 in Borissow (Weißrussland).

„Im Kreis um Tresckow hat der Fall Borissow wohl den nachhaltigsten Eindruck gemacht und die letzten Hemmungen im Kampf gegen Hitler und sein Regime beseitigt“, schreibt Gersdorff. Auch er sah sich verpflichtet, „das Gewissen dem Gehorsam überzuordnen“. Und dem Eid.
Gedankenverloren kehrt Freiherr von Gersdorff nach seiner Erkundung des Zeughauses in das Hotel „Eden“ gegenüber dem Aquarium am Zoo zurück. Auf seinem Zimmer wird ihm „die ungeheure Bedeutung und Verantwortung meines Vorhabens wieder ganz bewußt“.
Natürlich haben die Verschwörer immer wieder mal erwogen, Hitler aus nächster Nähe zu erschießen. Angesichts der Leibwache des „Führers“ und der Schutzvorrichtungen, die sich unter seiner Kleidung und selbst unter seiner Mütze verbargen, zweifelten sie, dass das selbst einem schnellen, nervenstarken und zielsicheren Schützen gelingen könnte.
Eine britische Haftmine soll Hitler den Garaus machen
Gegen Mitternacht kommt Fabian von Schlabrendorff ins Hotel und bringt Gersdorff die beiden Sprengsätze, die nicht nur Hitler den Tod bringen sollen: zwei Haftminen britischer Herkunft. „Ich habe in der Nacht kein Auge zugemacht, und hatte ähnliche Empfindungen wie ein Verurteilter in der Todeszelle in der Nacht seiner Hinrichtung.“
Eine geeignete Sprengladung zu finden, war problematisch. Im Sommer 1942 trat Tresckow an Gersdorff mit der Bitte heran, „einen besonders wirksamen Sprengstoff, der wenig Raum beansprucht“, und einen „absolut zuverlässigen Zeitzünder, der keinerlei Geräusche macht“, zu beschaffen.
Unter erbeuteten britischen Waffen fand Gersdorff Haftminen des Typs „Clam“ (Muschel). In der Standardausführung durchschlug diese Mine 25 Millimeter Stahl; aufeinandergelegt bildeten zwei Clams einen Rundkörper, der sich, unter Packpapier verborgen, wie eine Flasche anfühlte.
Allerdings: Die mechanischen Zünder tickten so laut, dass Hitlers Leibwache darauf aufmerksam geworden wäre; und die lautlosen Zünder aus deutscher Produktion passten nicht in die britischen Minen. Also blieb nur, die britischen Säurezünder zu verwenden, die, je nach Art und abhängig von der Umgebungstemperatur, eine Bombe nach etwa 10, 30 oder 120 Minuten zur Explosion brachten.
Als Grundlage für alle Sprengstoff-Attentate bis zum 20. Juli 1944 diente die Clam. Wäre es nach Tresckow gegangen, hätte Hitler den Heldengedenktag gar nicht mehr erlebt. Am 13. März 1943 besuchte der „Führer“ das Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte in Smolensk. Drei Pläne hatte Tresckow, den Diktator umzubringen.
Die Welt muss von dem größten Verbrecher aller Zeiten befreit werden.
In einem Waldstück auf dem Weg vom Flughafen zum Hauptquartier sollte Hitler abgefangen und erschossen werden. Weil ihn eine schwer bewaffnete SS-Eskorte bewachte, ließ Tresckow das Vorhaben fallen.
Beim Mittagessen sollten Tresckow und andere auf ein Zeichen aufstehen und Hitler erschießen. Dagegen verwahrte sich Günther von Kluge, damals Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte. Seinem Befehl, so etwas „nicht in seinem Verantwortungsbereich“ zu tun, folgten die Offiziere seines Stabes.
In der Focke-Wulf Fw 200 „Condor“, mit der Hitler in sein Hauptquartier Wolfsschanze bei Rastenburg in Ostpreußen zurückflog, sollte eine Bombe explodieren. Fabian von Schlabrendorff hatte aus zwei Sprengkörpern ein Päckchen geformt, das zwei Flachen Weinbrand glich, und an Bord geschmuggelt.
Nachdem das Flugzeug nicht explodiert war, flog Schlabrendorff am Morgen darauf hinterher. Als er das Päckchen untersuchte, stellte er fest: Die Säure hatte den Draht, der den Schlagbolzen hält, zersetzt, der Bolzen war nach vorne geschlagen, aber das Zündhütchen hatte sich nicht entzündet – vermutlich wegen der eisigen Kälte im Frachtraum.
Als die Verschwörer Einsicht in den streng geheimen Plan für Hitlers Programm am Heldengedenktag bekamen, sah Tresckow die nächste Gelegenheit, Hitler zu beseitigen. Er sprach mit Gersdorff über die „unbedingte Notwendigkeit“, Hitler zu töten, um das Land vor dem Untergang zu bewahren. Und fragte ihn schließlich direkt, ob er zu einem Attentat bereit sei, bei dem er sich wahrscheinlich mit Hitler zusammen in die Luft sprengen müsse.
In seinen Erinnerungen schildert Gersdorff das Gespräch so, als wäre es ganz alltäglich, dass jemand einen um ein Selbstmordattentat bittet. „Wir waren damals so fest in die uns gestellte Aufgabe verstrickt“, schreibt er erklärend, „daß ich nicht viel Zeit brauchte, um die schwerwiegendste Frage, die je an mich gestellt wurde, mit Ja zu beantworten.“
Vor seinem Flug nach Berlin habe ihm Tresckow noch diese Worte mit auf den Weg gegeben: „Die Welt muss von dem größten Verbrecher aller Zeiten befreit werden. Man muß ihn totschlagen wie einen tollwütigen Hund (…).“

Eine Sprengladung in der linken, eine zweite in der rechten Manteltasche: So geht Gersdorff am späten Vormittag des 21. März 1943 zum Zeughaus. Um das streng bewachte Gebäude versammeln sich Tausende Berliner, im Lichthof finden sich die Ehrengäste ein. Gegen 13 Uhr erscheint Hitler. Gersdorff sitzt eingekeilt auf der Tribüne, die dem Rednerpult gegenüber liegt.
Nachdem das Orchester den ersten Satz der 7. Sinfonie von Anton Bruckner gespielt hat, beginnt der „Führer“, seine Rede zu halten. Gersdorff bekommt davon wenig mit; er schluckt eine Pervitin-Tablette – ein Methamphetamin, ein Mittel gegen Müdigkeit, Kälte, Angst –, begibt sich zum Eingang der Ausstellungsräume, wo er Generaloberst Walter Model und den Museumsdirektor antrifft, und wartet.
Da kommt Hitler, neben ihm geht Göring, „auf grotesk auffallende Weise geschminkt“ (Gersdorff), dazu erscheinen Himmler, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel und Großadmiral Karl Dönitz sowie zwei oder drei Ordonnanzoffiziere. Als sich die rechten Arme zum Hitlergruß recken, aktiviert Gersdorff den Säurezünder der Bombe in seiner linken Manteltasche. Zehn Minuten, dann ...
Und schon beginnt der Rundgang. Gersdorff drängt sich neben Hitler, erklärt Waffen und andere Ausstellungsstücke. Schnellen Schrittes marschiert der „Führer“ durch die Räume, ausdruckslos, wortlos. Selbst der napoleonische Adler, den Pioniere der Wehrmacht beim Brückenbau im Flussbett der Beresina bei Borissow gefunden haben, weckt sein Interesse nicht.
Auf kürzestem Weg eilt Hitler Richtung Ausgang, als wittere er Gefahr. Er ignoriert noch Göring, der auf etwas in einer Vitrine aufmerksam machen will, verabschiedet sich von Gersdorff und verlässt das Gebäude durch den Seitenausgang am Kastanienwäldchen.
Es wäre eine Leichtigkeit gewesen, ihm eine Handgranate in den Wagen zu werfen.
Zwei Minuten sind vergangen, seit Gersdorff eine der beiden Bomben aktiviert hat. In acht Minuten wird sie explodieren. Er muss sie entschärfen, schnell, unbemerkt. Er hastet zur nächstgelegenen Toilette – und spült den Säurezünder ins Klo.
Unauffällig verlässt Gersdorff das Zeughaus. Er geht Richtung Brandenburger Tor und schert ein in die Schadowstraße, wo er den „Union-Club“ betritt. Ablenken will er sich jetzt. Im Club trifft er den Kölner Bankier Waldemar von Oppenheim.
Amüsiert erzählt der, wie Gersdorff später schreibt, soeben die Gelegenheit versäumt zu haben, Hitler umzubringen: „Vor meinem Parterrezimmer im Hotel Bristol kam er gang langsam im offenen Wagen die ,Linden’ vorbeigefahren. Es wäre eine Leichtigkeit gewesen, ihm über den Fußgängersteig hinweg eine Handgranate in den Wagen zu werfen.“
Wie knapp Hitler am 13. und am 21.März 1943 dem Tod entkam, blieb den Sicherheitsdiensten des NS-Regimes bis zu seinem Ende verborgen. Und auch das: dass Freiherr von Gersdorff für Claus Schenk Graf von Stauffenberg Sprengstoff und Zünder für das Attentat am 20. Juli 1944 organisierte. Die trotz Folter beharrliche Verschwiegenheit der Festgenommenen rettete Gersdorff vor Verhaftung und Hinrichtung.
Acht Tage nach dem 20. Juli wird Gersdorff Generalstabschef der 7. Armee in der Normandie. Für die Planung des erfolgreichen Ausbruchs der Armee aus dem Kessel von Falaise erhält er das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Im März 1945 wird er zum Generalmajor befördert. Wenig später geht er in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Nach 1945 sei er mehrfach aufgefordert worden, schreibt Gersdorff, „mein offenes Eintreten für den Widerstand einzustellen, da es meinen beruflichen und persönlichen Interessen schade“. Nach Wiederbewaffnung Westdeutschlands 1955 scheitern alle Versuche Gersdorffs, in die Bundeswehr aufgenommen zu werden. In seinen Erinnerungen macht er dafür den damaligen Staatssekretär Hans Globke und Kreise ehemaliger Offiziere der Wehrmacht verantwortlich, die keinen „Verräter“ in der Bundeswehr dulden wollten.
Verbittert schreibt Gersdorff 1977: „Die verfehlte Entnazifizierung durch die Siegermächte und die verschwommene Einstellung aller Nachkriegsregierungen zum deutschen Widerstand haben zur Folge, daß das Gift des Nationalsozialismus noch heute im deutschen Volk weiterwirken kann.“ Seinen Erinnerungen hat er ein Wort des polnischen Lyrikers und Aphoristen Stanislaw Jerzy Lec vorangestellt: „Wer eine Tragödie überlebt, ist nicht ihr Held gewesen.“
Kaum zu begreifen ist, dass es nicht gelang, die nationalsozialistische Tragödie durch einen todbringenden Anschlag auf Hitler zu verkürzen. Dokumentiert sind 42 geplante Attentate.
Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Artikels, der am 18. März 2018 im Berliner Kurier am Sonntag erschien.