Emma Herwegh: Die Berliner Bürgerstochter, die eine Revolutionärin war
Sie träumte schon 1848 von einem freien und gleichen Europa – und gilt heute als eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Wer war sie?

Wie leer doch ihr Leben ist. Am 22. Februar 1839 schreibt sie in ihr Tagebuch: „Morgens Nichts, Mittag Nichts und Abends wenig.“ Da ist sie 21 Jahre jung und schon ihres Lebens müde.
Und diese Männer, die ihr, der „guten Partie“ aus wohlhabendem Berliner Hause, den Hof machen: „Beamtenseelen, Menschenware, niederträchtige Gesellschaft, Schufte, Philister, liberales Pack, Schöngeister, Windbeutel, Esel, entmarkte Gesellen, Höflinge, Speichellecker“, echauffiert sie sich an anderer Stelle. Und überhaupt, es kommt ihr vor, „als glaubten die Männer, wir wären nur in der Welt zum Vergnügen für sie. Und das ist der Punkt, der mich rasend machen könnte“.
Was sie noch mehr erzürnt: dass sich mit der endgültigen Niederlage Napoleons 1815 – da war sie noch nicht geboren – die jahrhundertealten feudalen Machtverhältnisse wieder durchgesetzt haben. Seit sie französische Revolutionsgeschichte gelesen hat, ist sie „von einer vulkanischen Glut getrieben, bald glühend, bald halb erstarrt“. Und sie fragt sich: „Wie aber, wenn eine Zeit käme, wo jeder Mensch königlich dächte, wo die Gesamtbildung eine so allgewaltige wäre, daß der Mensch im Andern nur den Bruder sähe, wo nur Verdienste anerkannt würden, wo der Geist des Göttlichen sich in jeder Brust offenbart hätte; bedürfte es dann jener Könige noch?“
Emma Herwegh – so heißt die Frau, die in jungen Jahren mit ihrem Leben und der Welt Mitte des 19. Jahrhunderts haderte. Sie sehnte sich nach einem freien und gleichen Europa. Dafür unterstützte sei den polnischen Freiheitskampf, die deutsche Märzrevolution und zuletzt die italienische Freiheitsbewegung.


Als Emma Siegmund wird sie am 10. Mai 1817 geboren. Ihr Vater ist ein Berliner Kaufmann und Hoflieferant, der durch Seidenhandel ein Vermögen gemacht hat. Am Schlossplatz, gegenüber der Residenz des Königs, steht ihr Elternhaus, in dem sie mit zwei Schwestern und einem Bruder aufwächst. Sie lernt Französisch, Polnisch und Italienisch, bekommt Klavier- und Zeichenunterricht, spielt Theater und schreibt Gedichte. Ansonsten verbringt sie ihre Tage mit Konzertbesuchen, Gesellschaftsbällen und Reisen. Ihre Eltern sind liberale Menschen. Und doch ist ihr, als lebe sie in einem Käfig. Durch unkonventionelles Auftreten verschafft sie sich kleine Freiheiten: sie raucht, sie turnt, sie reitet, sie schießt.
Emma ist 24 Jahre alt, als sich ihr Leben mit Sinn zu füllen beginnt. Sie verliebt sich in einen Dichter: Georg Herwegh, Sohn eines Gastwirts aus Stuttgart, der vor einer Zwangsrekrutierung aus dem Königreich Württemberg in die Schweiz geflohen ist. In Zürich veröffentlicht er 1841 „Gedichte eines Lebendigen“, die ihn europaweit berühmt machen. Er schreibt: „Wenn alle Welt den Mut verlor, / Die Fehde zu beginnen, / Tritt du, mein Volk den Völkern vor, / Lass du dein Herzblut rinnen, / Gib uns den Mann, der das Panier / Der neuen Zeit erfasse, / Und durch Europa brechen wir / Der Freiheit eine Gasse.“
Verse wie diese lassen Emmas Herz höherschlagen. „Das ist die Antwort auf meine Seele“, soll sie gegenüber ihrer Familie frohlockt haben. Sie will Herwegh kennenlernen. Am 6. November 1842 ist er Gast in ihrem Berliner Elternhaus. Auch er ist entzückt: „Das Mädchen ist noch rabiater als ich und ein Republikaner von der ersten Sorte.“ Zwei Wochen später sind sie verlobt.
Eine Hochzeit in der preußischen Hauptstadt bleibt dem Paar verwehrt, weil König Friedrich Wilhelm IV. den revolutionären Dichter ausgewiesen hat. Also heiraten Emma und Georg in der Schweiz, am 8. März 1843. Sie ziehen im selben Jahr nach Paris, wohin viele intellektuelle Deutsche emigriert sind, unter anderen Heinrich Heine und Karl Marx mit seiner Frau Jenny. Dort eröffnet Emma einen politisch-literarischen Salon. Er wird zum Treffpunkt prominenter Zeitgenossen wie George Sand, Victor Hugo, Iwan Turgenjew oder Franz Liszt, der Gedichte von Georg Herwegh vertont.
Als Pariser Emigranten zur Unterstützung für polnische Patrioten aufrufen, denen nach einem Aufstand gegen Preußen die Todesstrafe droht, reist Emma Herwegh im Oktober 1847 nach Berlin. Sie erwirkt eine Besuchserlaubnis, spricht mit Inhaftierten in der Moabiter Festung und kämpft um Hafterleichterungen. Erst als es Anzeichen für Strafminderung gibt, kehrt sie nach Frankreich zurück.

Der Ausbruch der Revolution in deutschen Landen im März 1848 bewegt Georg Herwegh dazu, die „Deutsche Demokratische Legion“ aufzustellen, um die Aufständischen in Baden zu unterstützen. Der Legion schließt sich auch Emma an. Sie marschiert in Männerkleidern bis zum Rhein, schlüpft dort wieder in Frauenkleider und schlägt sich bis zum Hauptquartier der Revolutionäre um den Rechtsanwalt Friedrich Hecker durch, mit dem sie sich über ein gemeinsames Vorgehen berät. Als die Legionäre Ende April die Grenze überschreiten, sind Heckers Truppen bereits vernichtend geschlagen. Ein württembergisches Regiment stellt die Legion; die Herweghs verteilen Munition und versorgen Verwundete. Nach anderthalb Stunden ist der Kampf entschieden.
Auf den „Hochverräter“ Herwegh und sein „verfluchtes Weib“ wird ein Kopfgeld von 4000 Gulden ausgesetzt (entspricht der heutigen Kaufkraft von etwas mehr als 50.000 Euro). Ein Steckbrief in der Karlsruher Zeitung beschreibt Emma Herwegh so: „Haare, blond; Gesichtsform, oval; Gesichtsfarbe, blühend; Stirn, hoch; Augen, schwarzbraun; Nase, gebogen; Mund, klein; Zähne, ganz gut; Kinn, spitz. Sie spricht den Berliner Dialekt.“ Mithilfe eines Bauern gelingt dem Paar die Flucht in die Schweiz, als Tagelöhner verkleidet und in einem Mistkarren versteckt.
Eine Amnestie für politische Emigranten 1866 ermöglicht den Herweghs schließlich die Rückkehr nach Deutschland. Als Wohnsitz wählen sie Lichtental im Großherzogtum Baden. Die meisten Verlage weigern sich, Georg Herweghs Arbeiten zu drucken. Im Jahr 1878, zum 25. Jahrestag der Märzrevolution, schreibt er: „Achtzehnhundert siebzig und drei / Reich der Reichen, da stehst du, juchhei! / Aber wir Armen, verkauft und verraten, / Denken der Proletariertaten – / Noch sind nicht alle Märze vorbei, / Achtzehnhundert siebzig und drei.“
Im Jahr 1878, drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes (er starb 58-jährig an einer Lungenentzündung) kehrt Emma Herwegh nach Paris zurück. Sie lebt bescheiden im Quartier Latin in der Nähe ihrer Söhne Horace und Marcel (ein dritter Sohn starb im Kleinkindalter) und arbeitet, von ihrem Vater enterbt, als Übersetzerin. Ihrer einzigen Tochter Ada berichtet sie von einem jungen Dichter, den sie fördert und dem sie in langen Gesprächen aus ihrem bewegten Leben erzählt: Frank Wedekind.
Bis zu ihrem Tod am 24. März 1904 war Emma Herwegh überzeugt, dass eine Zeit kommen wird, in der ein demokratisches Deutschland für die Freiheit Europas miteinstehen könnte. Sie irrte sich nicht.