Berlin, Kreuzberg: So wohnt es sich hinterm Regenbogen
Junge Leute besetzen 1981 auf einem Fabrikgelände an der Lausitzer Straße 22/23 ein leer stehendes Mietshaus. Es entsteht ein vorbildliches Wohnprojekt.

Es ist sehr ruhig im Hof der Regenbogenfabrik an diesem Dienstagmittag. Der Sitzplatz vor dem Hostel liegt in der Sonne. Von der Lausitzer Straße klingt kein Geräusch bis hierher. „Wir haben aber auch Glück, dass in der Kita jetzt Mittagsschlaf ist“, sagt Christine Ziegler und lacht. Die Politologin ist seit den Anfängen des Wohnprojektes dabei, sie arbeitet in der Büro- und in der Kulturgruppe mit und weiß wohl am besten, dass diese Idylle hier zwei Seiten hat.
Ein Zuhause, an dem alle zu fairen Preisen in Gemeinschaft wohnen und arbeiten – so sieht es für die Besucher aus, die im Kino Regenbogen einen Film sehen oder im Hostel übernachten. Für die Bewohnerinnen und Bewohner aber war es ein langer, arbeitsreicher und auch unsicherer Weg. Dass sie hier weiterhin wohnen können, ist erst seit zwei Jahren rechtlich abgesichert.
Wenn Christine Ziegler ihren Blick über den Hof mit dem alles überragenden Schornstein schweifen lässt und erzählt, dann stehen einem schnell die Bilder aus den 1980er-Jahren vor Augen, als hier noch der Boden mit Chemikalien der Fabrik getränkt war, die damals erst wenige Jahre stillstand. Von den farbigen Salzen in Tüten und Gläsern, die teilweise aus Regalen heruntergefallen waren und sich auf dem Boden verteilt hatten, rührt der Name des Wohnprojektes her: Regenbogenfabrik. Und dementsprechend der des Wohnhauses: Hinterm Regenbogen.

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Die Lausitzer Straße 22/23 im März 1981 (einem nicht ganz so sonnigen wie dem diesjährigen): Das Haus und das Fabrikgebäude stehen leer, sie sind dem Verfall preisgegeben. Ein Investor will alles abreißen lassen und neu bauen. Eine bunte Truppe von 50 bis 60 jungen Leuten – Studenten, Handwerker und andere Berufstätige – entschließt sich, das zweite Hinterhaus kurzerhand zu besetzen. Sie sind nicht die Ersten, die auf diese Idee kommen; in Kreuzberg sind in jenem Frühjahr mehr als 100 leer stehende Häuser besetzt.
Im Gegensatz zu anderen Hausbesetzungen, an denen sich meistens Autonome und Studenten beteiligten, waren in der Lausitzer von Anfang an auch viele Frauen mit Kindern dabei. „Die saßen in kleinen Wohnungen, weil sie nichts anderes fanden“, sagt Christine Ziegler. Deshalb war die Kita eines der ersten Projekte, das die Regenbogenfabrik ins Leben rief. Die Mütter, die halfen, das Haus zu sanieren, brauchten für ihre Kinder eine Betreuung.
Die Regenbogenfabrik: das alternative Wohnprojekt funktioniert bestens
Dort, wo heute Mädchen und Jungen schaukeln oder auf den Klettergerüsten balancieren, musste 1982 allerdings erst mal der verseuchte Boden bis in zwei Meter Tiefe ausgetauscht werden. Vieles ist in Selbsthilfe entstanden. Auch die Regeln des Zusammenwohnens haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner selbst gegeben – dergestalt, dass jeder damit gut leben kann. Vielleicht ist die Regenbogenfabrik deshalb heute eines der am besten funktionierenden alternativen Wohnprojekte Berlins.

Etwa 35 Menschen wohnen derzeit im sanierten Hinterhaus neben der Fabrik. Einige sind von Anfang an dabei. Doch es gab auch immer viel Wechsel im Haus. Kinder wurden groß, zogen aus. Erst im Dezember vergangenen Jahres ist eine junge Familie mit ihrem fünfjährigen Sohn eingezogen. Der saust an diesem Tag barfuß die Treppe hoch bis zum Dachgeschoss, um sich vor seinem Papa zu verstecken, der nur schwer hinterherkommt.
Christine Ziegler: „Hier ist immer Bewegung“
„Habt ihr Phoenix gesehen?“, fragt der Mann die beiden Frauen, die ihm entgegenkommen. Die stellen sich dumm: „Nö, da war niemand.“ Von oben lacht der Junge. „Hier ist immer Bewegung“, sagt Christine Ziegler und meint damit nicht nur die Familie, die auf der Treppe Verstecken spielt. „Manchmal ist es schrecklich, wenn jemand geht, aber so bleibt man auch lebendig im Kopf.“
Der Wohnraum ist fair verteilt, aber die Ausstattung ist spartanisch. Das hat die Innenarchitektur den Leuten von der Regenbogenfabrik auferlegt. „Stube, Küche, Außenklo“, zählt Christine Ziegler auf – so lebten Familien ab Ende des 19. Jahrhunderts in dem Haus, immer vier Mietparteien auf einer Etage. Die Wohnstuben von heute haben alle die gleiche Größe. Und das Treppenhaus wurde so umgebaut, dass die Außen- zur Innentoilette und später zum Badezimmer wurde. Jede Etage teilt sich eins.
Ich könnte eigentlich auch kleiner wohnen.
Die Familie des fünfjährigen Phoenix lebt mit Johanna Erdmann und Martin Cames, die schon seit Jahrzehnten in der Regenbogenfabrik wohnen, auf einem Stockwerk. Johanna Erdmann, die früher als Hausmeisterin arbeitete und inzwischen Rentnerin ist, hat hier mit ihrem Partner ihre drei Kinder aufgezogen. Im Wohnraum hat sie noch Sachen ihrer Kinder untergestellt, die längst aus dem Haus sind und in der Welt herumreisen. Sie ist genügsam: „Was brauche ich denn schon?“
Auch Martin Cames – er leitet den Bereich Energie und Klimaschutz beim Berliner Öko-Institut – hat nie eine Wohnung vermisst, in der Küche und Bad ihm allein gehören. „Du hast hier mehr“, sagt er und meint den Kontakt zu seinen Mitbewohnern. „Man kann hier mit Kindern leben, ohne selbst welche zu haben.“
Gemeinschaft ist gut, Privatheit ist besser
Aber bei aller Gemeinschaft ist Privatheit wichtig. Egal, auf welcher Etage: Die meisten Zimmertüren sind geschlossen. Picobello aufgeräumt ist Martin Cames’ Zimmer. Es sehe immer so aus, sagt er und wirft sich mit Schwung in die Hängematte, die quer über sein Bett gespannt ist. 20 Quadratmeter misst sein Zimmer, wie alle anderen auch.
Es gibt noch kleinere mit acht Quadratmetern, denn teilweise wurden die früheren Küchen in Wohnräume umgewandelt. Diese kleineren Räume wurden meist den Familien mit Kindern zugeschlagen. Oft ging es dann so aus, dass die Großen das kleine und die Kleinen das große Zimmer bekamen.
„Ich könnte eigentlich auch kleiner wohnen“, sagte Martin Cames, während er sich in seinem Zimmer umsieht. Es ist sehr wohnlich eingerichtet, mit mehreren Sitzgelegenheiten und einigen großen Grünpflanzen vor dem einen Fenster. Das andere steht offen. Man hört die Vögel im Innenhof zwitschern. Cames wohnt hier seit 1986, als einige Zimmer frei wurden. Damals zogen einige weg, weil sie lieber politisch als handwerklich aktiv sein wollten. Doch auf handwerkliches Geschick kam es in jener Zeit in West-Berlin an, als die besetzten Häuser entweder geräumt oder die Wohnprojekte legalisiert wurden.

Die Regenbogenfabrik befand sich in einer rechtlich komplizierten Lage, sie gehörte zu den letzten besetzten Häusern. Die Bewohnerinnen und Bewohner durften bleiben und ihr Haus im Rahmen der Selbsthilfe instand setzen. „Wir bekamen immer für drei Monate Geld für ein bestimmtes Vorhaben“, sagt Christine Ziegler. „Zwanzig Prozent mussten wir selbst aufbringen und ansonsten in Eigenleistung sanieren.“ Das klingt mühsam. Und das war es auch.
Im Büro im Erdgeschoss des Hauses zeigt Christine Ziegler Fotos von damals. Da sieht man junge Männer und Frauen, die frisch angelieferte Erde in Schubkarren schaufeln oder, umgeben von Bauschutt, Zement angerührt haben. Längst nicht alle Nachbarn fanden gut, was da um die alte Fabrik herum entstand. Als sich aber der giftverseuchte Hof nach und nach in eine Großstadtoase verwandelte, waren viele vom Projekt überzeugt. Auf einem anderen Foto besprechen Hausbesetzer einen Grundriss. Eine weitere Aufnahme zeigt Männer, Frauen und Kinder beim Abendessen, es gibt Kartoffelsalat mit Buletten.
Etwa ein Dutzend der Bewohner wechselt sich heute beim Kochen ab, die anderen bereiten sich selbst etwas zu. Christine Ziegler, Johanna Erdmann und Martin Cames gehören zu jenen, die sich jeden Abend um 18 Uhr am großen Tisch im Erdgeschoss einfinden. „Ich muss einmal in der Woche kochen und kann mich an den anderen Tagen einfach an den gedeckten Tisch setzen“, sagt Christine Ziegler. „Das ist doch wunderbar.“
Die Hausgemeinschaft tagt einmal im Monat
An der Küchenwand hängen Zettel, auf die jeder schreibt, was gekauft werden muss. Wer einkauft, trägt ein, was er oder sie gezahlt hat. Wer mehr ausgegeben hat, bekommt Geld von den anderen. Ein eingespieltes Verfahren, sagen alle.
Das gilt auch für das Plenum, das die Hausgemeinschaft einmal im Monat abhält. Die Bewohner haben erwogen, sich auf Zuruf zu treffen, sind aber schließlich beim Monatsrhythmus geblieben. Nur das mit dem Vetorecht wollen sie vielleicht jetzt ändern. Bisher gilt das Einstimmigkeitsprinzip – nicht immer einfach, wenn es um Anschaffungen geht. Nun soll ein Veto von wenigstens zwei weiteren Personen unterstützt werden, um wirksam zu sein.
Das Plenum tagt im Dachgeschoss des Hauses. Dort gibt es mehrere Räume zum Diskutieren und zum Feiern, dazu zwei Gästezimmer mit Bad und eine große Dachterrasse. Auch ein Hobbyraum fand Platz. Auf einem Ständer hängen Kleidungsstücke, bei denen sich jeder gratis bedienen kann. Das Spülbecken ist an diesem Tag mit Eiswürfeln und Bierflaschen gefüllt. Gleich wird hier der Geburtstag einer Bewohnerin gefeiert. Dafür hat sie sich im Kalender neben dem Kühlschrank eingetragen. Die Feier soll bis Mitternacht gehen.

Für all das haben die Bewohnerinnen und Bewohner in den 1990er-Jahren noch mal schwer geschuftet. Das Projekt wurde stetig größer. Ein Kino kam hinzu, die Fahrradwerkstatt, die Holzwerkstatt, das Hostel. Vor zehn Jahren stellte die Hausgemeinschaft fest, dass das Gebäude verkauft worden war, an eine Familien-GmbH. Gleichzeitig stellte sich heraus, dass weitere Baumaßnahmen notwendig wurden: Der Keller musste trockengelegt werden, angesichts der unsicheren Vertragslage eine gewagte Investition.
Gemeinschaftliches Wohnen zu fairen Preisen
Die Hausbewohner nahmen Kontakt zum neuen Eigentümer auf, um eine Verlängerung des Vertrages zu erwirken. Und auf einmal hatten sie die Möglichkeit, das Haus zu kaufen. Die Hausgemeinschaft kaufte schließlich nicht selbst, sondern kooperierte mit der SelbstBau e.G. und der Stiftung trias. Die Stiftung erwarb Grund und Boden und schloss darüber mit der SelbstBau e.G. einen Erbbaurechtsvertrag. So war es möglich, die Wohnräume langfristig zu sichern, ohne dass die Wohnungen in private Hände gehen – auch nicht in die derer, die hier seit Jahrzehnten wohnen und arbeiten.
Man habe das bei anderen Projekten gesehen, die zwar dadurch legalisiert, aber letztlich ganz normaler privater Wohnraum wurden, sagt Christine Ziegler. Das Wohnhaus Hinterm Regenbogen aber soll das bleiben, was es ist: ein Projekt für gemeinschaftliches Wohnen zu fairen Preisen. „Wir haben die Angelegenheiten so weit geordnet“, sagt Christine Ziegler.
Für die Regenbogenfabrik nebenan mit dem Nachbarschaftszentrum ist die Rechtslage eine andere. Das Land Berlin hat dieses Gelände gekauft und dem Bezirk übergeben. Dieser hat 2012 mit dem Verein einen 30-jährigen Erbpachtvertrag abgeschlossen. Was danach passiert, wird die nächste Generation entscheiden.
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