Befreiung des KZ Buchenwald vor 70 Jahren: Die Hölle für 250.000 Menschen
Salve! Auf dem Frauenplan und an Goethes Gartenhaus blüht, was der Frühling an Farben herbeizuzaubern vermag. Vorm Goethe-Wohnhaus und auch am Schillermuseum stehen geduldige Menschen Schlange. Die einen wollen in die Gemächer des Dichterfürsten, die anderen zu den einst in Weimar gemalten Bildern Lucas Cranachs d.Ä.
Auf jedem der vielen Stadtplätze oder all den sonstigen Fleckchen Grün im Zentrum spielen Kinder oder sitzen junge Leute – Studenten, Touristen, Einheimische? – und blinzeln in die 23 Grad spendende Sonne, schlecken Eis von einem der vielen Italiener. In den idyllischen Straßencafés gibt es kaum noch einen leeren Stuhl, und ab Mittags Gedränge in den nostalgischen Biergärten. Überm Frauenplan, Herderplatz, überm Markt hängt der Duft von frischgebackenem Kuchen und Kaffee. Von schräg gegenüber, vom Sächsischen Hof her, ziehen Rotkohl und Rouladen-Geruch die Touristen an und in der Anna-Amalia-Bibliothek sind die Karten für den Rokokko-Saal auch für heute schon wieder völlig ausverkauft.
Ein ganz normales Frühlings-Wochenende im 64.000 Einwohner-Weimar also, der aus aller Welt besuchten Klassiker-Stadt, Ort der Dichter und Denker. Hier ist jeder Quadratmeter Genius loci.
Französisch, Hebräisch, Polnisch
Wie es scheint, bemerken die wenigsten Spaziergänger, Museums- oder Cafébesucher, vielleicht auch nicht mal die vielbeschäftigen Kellner und Ladenbesitzer, dass diesmal doch etwas anders ist als sonst. Vorm berühmten Hotel Elephant am Markt, wo Goethes Spruch „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ überm Portal hängt, ebenso, auch vor weit schlichteren Pensionen im Zentrum halten immer wieder Taxen. Dunkelgekleidete, meist sehr ehrwürdige alte, schon gebrechliche Männer, begleitet von aufgeregten Frauen und jungen Leuten – Enkel, Urenkel vielleicht – steigen aus und wieder ein. Sie sprechen Englisch, Französisch, Hebräisch, Polnisch, Niederländisch. Manche halten Blumen in den Händen, weiße und rote. Dolmetscher haben zu tun. Die ernst und feierlich aussehenden Leute gehen ins Rathaus. Später fahren sie in den Autos hinaus aus der Stadt, hinauf zum Ettersberg, dessen Glockenturm weithin zu sehen ist.
Ins so beschaulich-vergeistigte wie touristische Weimar ist, dezent, still, aber doch nachdrücklich, die Geschichte eingebrochen. Vor 70 Jahren wurde, nahe auf dem Ettersberg, das Konzentrationslager Buchenwald befreit, eines der größten KZ auf deutschem Boden, seit 1937 Arbeitslager, Todeslager, Hölle für etwa 250.000 Menschen aus ganz Europa. 56.000 wurden von der SS ermordet, starben vor Hunger, an Krankheit und Pein, darunter 11.800 Juden. Als die 3. US-Armee sich näherte, übernahmen am 11. April 1945 die Häftlinge die Leitung des Lagers, die SS war geflohen, der Rest wurde übermannt. Über dem Lager wehte die Weiße Fahne, fast einen Monat vor der Kapitulation Hitlerdeutschlands. Buchenwald schrieb die Geschichte der Stunde Null.
Nicht sehen, nichts wissen
Weimar, Stadt Goethes, Schillers, Herders, Wielands – aber auch Stadt des Tausendjährigen Reichs– musste sich vor der Welt erklären. Wie war es möglich? Und wie konnten damalige Weimarer sagen, sie hätten davon nichts gewusst, nichts gesehen, nichts gehört? Der Zwiespalt quält, macht ratlos bis heute.
Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer. Ein Maler, der russische Jude Chagall, hatte einst zu dieser philosophischen Erkenntnis ein Bild gemalt: ein Fluss, Häuser, ein Liebespaar und über alledem eine Pendeluhr, ein fliegender Fisch und ganz winzig, die Hand eines Geigers. Das Bild entstand lange bevor Goethes Thüringisches Arkadien von einem Lagertor verraten wurde, in dessen Eisengittern der zynische Schriftzug zu lesen ist:„Jedem das Seine“.
Weimar ist schöner denn je in diesen Frühlingstagen, prall voller großer Historie, Dichtung, Kunst und Musik. Und das Gedenken, das einstimmige „Nie wieder“ all derer, die an diesem Wochenende wohl kaum von weither kamen, um durch Museen, Parks und Restaurant zu flanieren, dringt für etliche Stunden ins Flair der Stadt, stört leise auf. Abends, im Fernsehen die Bilder aus der Lager-Gedenkstätte. Manche der alten Männer haben ihre Häftlingskleidung angezogen. Als Demonstration. Dafür: Mensch und menschlich sein.