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BOSTON. "Ich hasse diese Liste", sagt Laura Nemeyer: "Ich hasse es, dass wir den Menschen diese Entscheidungsmöglichkeit geben, aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Unsere Gesellschaft ist einfach so." Die Mittfünfzigerin mit den raspelkurzen grauen Haaren und der wetterfesten Jacke ist Adoptionsvermittlerin und Sozialarbeiterin in Cambridge nahe Boston im Nordosten der USA. Sie schiebt die besagte Liste über den Tisch. "Kinder, die Sie in Betracht ziehen würden", steht darüber und dann folgen 15 Kategorien. Ganz oben steht: "Voll afroamerikanisch" und ganz unten "Voll kaukasisch". Zwischen Schwarz und Weiß - denn nichts anderes verbirgt sich hinter diesen typisch amerikanischen Rassenbezeichnungen - liegen die Schattierungen der US-Gesellschaft von "Hispanic" über "Native American" und allen möglichen Mischungen.16 000 Dollar für ein weißes KindPaare, die ein Kind adoptieren wollen, können auf dieser Liste festlegen, welche Hautfarbe es haben soll. "Wenn Sie weiter oben auf der Liste ankreuzen, geht es natürlich viel schneller und wir geben Ihnen einen Preisnachlass", sagt die Mitarbeiterin einer kleinen Adoptionsvermittlungsagentur in Maine am Telefon. Die Vermittlung eines schwarzen Babys kostet bei ihr nur gut die Hälfte von der eines weißen Babys: 9 500 statt 16 000 Dollar. "Nein, das liegt nicht daran, dass diese Babys weniger Wert sind", rechtfertigt sie sich, "es liegt daran, dass sie so schwer zu vermitteln sind." Und sie fügt nachdenklich hinzu: "Vielleicht ist Amerika bereit, einen schwarzen Präsidenten zu wählen", das bedeute aber noch lange nicht, dass weiße Familien bereit seien, schwarze Kinder aufzunehmen. "Rasse spielt in unserer Gesellschaft immer noch eine große Rolle. Leider", sagt sie.Das können Bridget und Margot aus Lynn im Bundesstaat Massachusetts bestätigen. "Mummy!", kräht es aus dem Nebenzimmer. "Welche von uns meinst du?", ruft Bridget zurück. "Na, dich!", ruft die Stimme empört. Die Frage war berechtigt, denn die vierjährige Mackie hat zwei Mamas: Bridget und Margot sind seit 13 Jahren ein Paar. Seit gut zwei Jahren gehört Mackie zu ihnen, und Mackie ist schwarz. Das Mädchen hüpft auf dem Sofa und singt Karaoke. Beste amerikanische Country-Musik. Weißer geht es nicht. "Mackie liebt dieses Video", sagt Bridget. "Wir bemühen uns ansonsten aber sehr, ihr Vorbilder aus der schwarzen Community zu zeigen." Mackie hat das Leben der beiden Frauen verändert. Nicht nur, weil sie ihre schöne alte Villa nun mit einem Kleinkind teilen. Aus dem weißen Mittelklasse-Paar wurde auf einen Schlag eine "viel-rassige Familie". Das ist schon wieder so ein Begriff, den man ungern ins Deutsche übersetzt, der aber in Amerika ganz normal ist."Ohne Mackie würden wir nicht auf die Idee kommen, unsere Wochenenden im YMCA zu verbringen", sagt Bridget. Sie muss zugleich zugeben, dass diese Ausflüge ins andere, ins kleinbürgerliche Amerika ihr großen Spaß machen. Trotz der Blicke. "Es sagt nie jemand etwas. Man kann nur manchmal den Menschen ansehen, dass sie sich ihren Teil denken, wenn sie zwei weiße Frauen mit einem schwarzen Kind sehen."Solche Blicke bekommt die Familie nicht nur von den weißen Nachbarn. Auch in der schwarzen Community sind Adoptionen über die Rassengrenzen hinweg umstritten. 1972 nannte die Vereinigung schwarzer Sozialarbeiter die Vermittlung schwarzer Kinder in weiße Familien "kulturellen Völkermord". Der Vorwurf, dass es schwarzen Kindern schade, in weißen Familien aufzuwachsen, hallt bis heute nach. Und so ernten Adoptiveltern wie Margot und Bridget abfällige Blicke von beiden Seiten: von weißen Rassisten und schwarzen Aktivisten.In den 50er- und 60er-Jahren wäre in den USA niemand auf die Idee gekommen, ein schwarzes Kind an eine weiße Familie zu vermitteln. Adoptiert wurde nur entlang der Rassenlinien. In den 70er- Jahren kamen die Bürgerrechtsbewegung und die Pille. In den 80er- und 90er-Jahren entdeckte die schwul-lesbische Community ihren Kinderwunsch."Es gab weniger Kinder, die zur Adoption freigegeben wurden und mehr Menschen, die bereit waren, über die Farbe hinwegzusehen", sagt Elisabeth Bartholet. Sie ist Professorin an der juristischen Fakultät der Universität Harvard. Sie hat selbst ein nicht-weißes Kind adoptiert und gilt zudem als Mutter des "Multiethnic Placement Acts", eines sehr umstrittenen Gesetzes von 1994, das es verbietet, Kinder nach Rassenzugehörigkeit in Familien zu vermitteln. Ihr geht es ums Prinzip. Das Adoptionsrecht sei einer der letzten Bereiche gewesen, in dem der Staat nicht farbenblind war, sagt sie, und das verstieß gegen die Verfassung. Das Gesetz sieht vor, dass Sozialarbeiter den Kindern so schnell wie möglich ein zu Hause vermitteln, egal welche Farbe die Adoptiveltern haben. Da es sehr viel mehr schwarze Kinder als adoptionswillige Afroamerikaner gibt, sei das Mischen der Familien nur normal, argumentiert Elisabeth Bartholet.Denise Maguire vom Cambridge Familien Center, die Mackie an Margot und Bridget vermittelt hat, sieht das etwas anders: "Ich würde ein Kind nie überlange warten lassen, aber wenn ich die Wahl habe, dann vermittle ich ein schwarzes Kind lieber in eine schwarze Familie", sagt sie, selbst Mutter einer afroamerikanischen Adoptivtochter. "Ich weiß aus eigener Erfahrung: Schwarze Kinder haben es leichter, wenn sie sich bei schwarzen Eltern abgucken können, wie man mit Rassismus umgeht."Adoptieren ist in den USA viel verbreiteter als in Deutschland. Es gibt wegen der restriktiven Abtreibungspolitik, fehlender Teenager-Aufklärung und sozialer Not sehr viel mehr ungeplante Kinder. Zudem passe Adoption gut zum "American Dream" und dem Glauben, dass aus jedem etwas werden kann, sagt Elisabeth Bartholet. Den Rest haben Angelina Jolie, Madonna und Co. erledigt. Die Stars machten andersfarbige Adoptivkinder zu einem Pflichtzubehör, einem coolen Lifestyle-Accessoire."Allerdings scheuen sich gerade Adoptionswillige aus dem liberalen Lager, ein afroamerikanisches Kind aus den USA aufzunehmen, weil sie Angst vor der Kritik aus der schwarzen Community haben", sagt die Sozialarbeiterin Laura Nemeyer. Viele suchten das Traumkind lieber im Ausland. "China ist sehr beliebt", sagt sie. Es habe viele Berichte über ausgesetzte chinesische Mädchen in den Medien gegeben. Auch gelten chinesische Kinder als intelligenter. "Ich habe aber auch Paare, die lieber ein Kind aus Äthiopien adoptieren wollen als ein afroamerikanisches Kind aus einem Problembezirk von Detroit", sagt Nemeyer. Und das, obwohl eine Adoption aus Afrika im Zweifel eher teurer ist. "Wenn man ein Kind aus Afrika adoptiert, weiß jeder, dass man etwas Gutes getan hat", erklärt die Sozialarbeiterin das Phänomen.Paradoxerweise spielt hier auch die sehr offene und transparente Adoptionspraxis in den USA eine Rolle, denn Adoptionswillige erfahren extrem viel über den familiären Hintergrund der Kinder, also auch über Drogen, geistige Behinderungen, sozialen Absturz, Inzest. Das kann abschreckend sein.Abgründe der GesellschaftAdoptionswillige Amerikaner haben in der Regel direkten Kontakt mit der Mutter und sind häufig auch bei der Geburt dabei. Es war ein langer Weg, die Adoptionspraxis so weit zu öffnen, dass die ungewollt Schwangeren nicht mehr stigmatisiert werden und es ein offenes Verhältnis zwischen der alten und der neuen Familie des Kindes geben kann."Ich fürchte aber, viele Menschen schrecken vor dem Kontakt zu den Abgründen der eigenen Gesellschaft zurück und nehmen lieber ein Kind aus einem Waisenhaus in Russland oder Äthiopien, wo sie nicht wissen können - oder sagen wir lieber - wissen müssen, wo das Kind herkommt", sagt Laura Nemeyer. Fremde Armut und fremdes Elend sind vielen sympathischer als das Elend der schwarzen Unterschicht vom anderen Ende der Straße. "Es tut mir leid, das sagen zu müssen", klagt Laura Nemeyer: "Aber so ist Amerika!"------------------------------Auch Singles können Kinder aufnehmenIn 1,7 Millionen US-Haushalten leben Adoptivkinder. Pro Jahr werden etwa 140 000 Adoptionen verzeichnet, dabei werden in etwa 20 000 Fällen Kinder zu Eltern gegeben, die eine andere Hautfarbe haben. 16 Prozent aller adoptierten Kinder sind schwarz, sieben Prozent asiatischer Herkunft.Bestimmungen zur Adoption sind je nach Bundesstaat verschieden. Eine Altershöchstgrenze für Adoptionswillige gibt es nicht. Grundsätzlich können auch alleinstehende Männer und Frauen Kinder aufnehmen.Für private Adoptionen werden meist Neugeborene vermittelt. Eine Schwangere sucht sich mit Hilfe einer Vermittlungsagentur eine Familie aus, die sie für geeignet hält. Die Adoptivfamilie zahlt der werdenden Mutter die Arzt-und Krankenhauskosten sowie einen Zuschuss zum Lebensunterhalt während des Mutterschutzes. Die adoptionswillige Familie wird von Sozialarbeitern überprüft. Ein Gericht bestätigt die Adoption.Für Adoptionen aus dem staatlichen Pflegesystem werden meist ältere Kinder vermittelt, die den Eltern wegen Vernachlässigung oder Überforderung weggenommen wurden. Sie werden erst für ein Jahr in Pflegschaft genommen und danach adoptiert.------------------------------Foto : Keine Altersgrenze: Die republikanische Kongressabgeordnete Deborah Pryce mit ihrer schwarzen Adoptivtochter Mia. Das Foto stammt aus dem Jahr 2003, damals war Mia drei Jahre alt, ihre Adoptivmutter 52.