Bloß kein falscher Dampf Sie war eine der großen Brecht-Schauspielerinnen, später Regisseurin, dann Buchautorin. Eine Reise entlang ungewöhnlicher Lebensstationen: Angelika Hurwicz

Mit ihrem Jugendfreund Marcel Reich-Ranicki verbindet sie, dass sie um das kämpfte, was ihr von der Welt nicht zugestanden wurde. Schauspielerin wollte sie werden. Unbedingt, auch wenn ihre Karten dafür denkbar schlecht waren. Als Tochter eines jüdischen Schriftstellers und Journalisten wurde Angelika Hurwicz 1922 in Berlin-Schöneberg, nahe dem Winterfeldplatz geboren. Ihr Vater kam 1905 aus Russland nach Berlin, um hier zu studieren, heiratete eine Deutsche und blieb. Als Halbjüdin aber hatte Angelika Hurwicz praktisch keine beruflichen Aussichten. Die Nürnberger Rassengesetze legten fest, dass Juden nicht mal das Abitur machen durften, geschweige denn studieren. Aber diesen Luxus haben sich die beiden dann doch geleistet, von einem Leben mit dem Theater und mit der Literatur zu träumen. Jahre später, so erzählt Reich-Ranicki in seiner Autobiografie, seine Jugendfreundin hatte er längst aus den Augen verloren, fiel ihm der Name Hurwicz zufällig in einem Theaterprogramm auf. Das war im Winter 1946. Noch spielte Angelika Hurwicz zwar eine Hofdame, eine kleine Rolle ganz ohne Text, aber immerhin an einem der ersten Häuser, dem Deutschen Theater in Berlin. Auch sie hatte es also geschafft. Nicht nur das Dritte Reich hat sie überlebt, über viele Umwege war sie doch Schauspielerin geworden, ganz so wie sie es immer wollte.Wie ihr dies gelungen ist, beschreibt Angelika Hurwicz in ihrem autobiografischen Roman "Die Nische des Insekts", einem schmalen Bändchen, das jüngst erschien. Das war kurz vor dem 25. November 1999, als sie mit 77 Jahren im Krankenhaus im holländischen Bergen starb. Die Nachrufe waren verhältnismäßig kurz.Mit siebzehn, so steht es in "Nische des Insekts", geht sie zur großen Reinhardt-Schauspielerin Lucie Höflich in ihr Studio, um Unterricht zu nehmen. Ganz gegen den Willen der Eltern. Um später auch wirklich auftreten zu dürfen, dafür hätte man allerdings Mitglied der Reichstheaterkammer sein müssen. Hurwicz findet aber einen Ausweg, es verschlägt sie in die Provinz, wo man es nicht ganz so genau nimmt mit der Bewilligung. Sie kommt bei einem der zahlreichen Wandertheater im Erzgebirge unter, zieht mit einer kleinen Schmierentruppe, einem Familienbetrieb, von Dorfgasthaus zu Dorfgasthaus. Gespielt wird meist im Hinterzimmer. Der Kritiker Fritz Erpenbeck sollte später sehr staunen, dass diese Art von Theater die junge Schauspielerin nicht mehr verdorben hat. Eine einzige Probe musste manchmal genügen, nicht selten erst am Tag der Premiere. Und im Sommer, wenn das Wetter schön, und die Tage lang waren, mussten die Theaterleute oft lange auf die Bauern warten, denen ihre Felder wichtiger waren. Damals hat Angelika Hurwicz alles Mögliche und Unmögliche gespielt. An einem Abend und in einem Stück gab sie den Bauernburschen, eine Gräfin und den jungen Fürsten. Und wenn nötig war sie auch das Fräulein an der Kasse und schlief statt in einem Hotel nach der Vorstellung auf der Bühne. Für Angelika Hurwicz war das Theater in dieser Zeit eine wundersame Nische, in der es ihr gelang, zu überleben und ihren Traumberuf zu erlernen und auszuüben.Ihre Freunde beschreiben Angelika Hurwicz als sehr schüchterne, zurückgezogene, in sich gekehrte und auch kontrollierte Frau. Richtig aus sich heraus gehen konnte sie nur, wenn sie sich absolut sicher und wohl fühlte. Diese Zurückhaltung, aber auch ihre wohl durchdachte Klarheit kann man schön an ihren großen Rollen studieren. Gerade dadurch, dass sie weniger macht, erzielt sie mehr an Wirkung. Berühmt geworden ist Angelika Hurwicz mit einer stummen Rolle. 27 Jahre war sie alt, als Brecht sie 1949 am Deutschen Theater in sein soeben gegründetes Berliner Ensemble eingliederte, damit sie in seiner "Mutter Courage und ihre Kinder" die stumme Kattrin spielt. Als robuste und resolute Mutter Courage ist Helene Weigel natürlich das Kraftzentrum der Inszenierung. Angelika Hurwicz ist der Ruhepol. Sie sitzt in vielen Szenen einfach nur konzentriert da, hört und guckt aufmerksam zu, nicht angestrengt, aber sehr wachsam. Ihre Kattrin ist ein gutmütiges, der Außenwelt neugierig zugekehrtes Geschöpf, das tief in sich ruht. Erst am Ende, wenn es darum geht, die Stadt vor den Soldaten mit lauten Trommelschlägen zu warnen, bricht eine unglaubliche Energie aus ihr hervor. Das hat etwas sehr Modernes, wie Hurwicz ihre Rolle so relaxed anlegt und gleichzeitig jede Bewegung enorm präzise ausführt. An ihrem Spiel ist nichts zu viel, nichts verschwommen. Was aber am meisten verwundert, sieht man heute die Videoaufzeichnung, ist, dass eine so junge Schauspielerin bereits so rund, so unabgelenkt und so still fröhlich in sich ruht. Man könnte bei bestem Willen nicht raten, wie alt sie wohl gerade ist. Prall, wuchtig, schwer und erdig ist ihr Körper, ihre Bewegungen sind ein wenig linkisch und träge, ihre Ausstrahlung ganz mütterlich, ihr apfelrunder Kopf und ihr Gesicht aber haben etwas freundlich Kindliches.Kritiker haben gerne ihre Frische und Naivität gelobt, im "Kaukasischen Kreidekreis", wo sie 1954 wieder in der Regie von Brecht die tapfere und mütterliche Grusche mit viel Erfolg verkörperte, spricht die "FAZ" von ihrer "lockeren Deutlichkeit". Trotzdem ihr Spiel zuallererst durch seine Körperlichkeit einnimmt, ist da aber noch etwas anderes. Die Hurwicz hat gerne die Naive gespielt und war dabei sehr schlau. Man sieht es erst auf den zweiten Blick: Alles was Gefühl ist, ist bei ihr doch sehr stark vom Intellekt gelenkt, ist klug ausgedacht.Angelika Hurwicz, und da decken sich Leben und Kunst sehr schön, hat immer lieber ein bisschen weniger gemacht als zu viel. "Bloß keinen falschen Dampf erzeugen. Selbst wenn s für einen Schauspieler viel schöner wär , Ausbrüche auszuspielen, muss er sich die gesamte Situation vergegenwärtigen und die höhere Wahrheit spielen", hat sie über Brecht gesagt, und doch sich selbst gemeint. Übertreiben und Ehrgeiz waren nie ihre Sache, auch nicht das Festhängen an nur einem Ziel. Als sie 1958, also zwei Jahre nach Brechts Tod, das Berliner Ensemble verließ, auch weil ihr die Hahnenkämpfe um die Brecht-Nachfolge nicht gefielen, hatte sie neben der Schauspielerei bereits zwei neue Standbeine. Sie könne einfach zu viel, um nur zu spielen, hatte noch Brecht selbst gemeint und ihr angeboten, Regie zu führen ihr Debüt gab sie 1955 mit Ostrowkis "Ziehtochter" mit der Weigel in der Hauptrolle.Brecht war es auch, der sie ermunterte zu schreiben. Als er aus der Emigration nach Berlin zurückkehrte, wollte er mehr wissen über die Stadt, wie die kleinen Leute hier so lebten, wie die Berliner überhaupt sind, wie man aus den Trümmern wieder herauskam. Damals hat Angelika Hurwicz für Brecht einen kleinen Berlinroman geschrieben. Die Nachkriegsstimmung ist in "Der neue Hamlet" verwoben mit einer Liebes- und Studentengeschichte. Das Manuskript ist in den Schubladen verschwunden und erst viel später wieder aufgetaucht, Brecht hatte es für einen Preis beim Aufbau-Verlag eingereicht, der Roman ging aber leer aus. Als Helene Weigel den Text wiederfand, bat sie Thomas Brasch, der damals im Brecht-Archiv arbeitete, herauszufinden, was das eigentlich für ein Buch sei und von wem. Später, als Thomas Brasch, der 1976 in den Westen ging, Angelika Hurwicz darauf ansprach, hatte sie ihren Roman schon selbst fast vergessen.In dem Kreis um Brecht muss Angelika Hurwicz eine Sonderstellung eingenommen haben. Die Schauspielerin Eleonore Zetzsche, die später ans Berliner Ensemble gestoßen ist und heute wieder da spielt, erinnert sich, dass Brecht die Hurwicz immer gerne vorzeigte; die Hurwicz hätte begriffen, was der V-Effekt sei. Das ist eine schöne Anekdote, weil Angelika Hurwicz in ihrer Schrift "Brecht inszenieren" betont, das Wort "Verfremdung" sei während der Proben zum "Kreidekreis" kein einziges Mal gefallen. Wie sie überhaupt sehr bemüht ist, das Brechtbild weg vom Theoretischen zu rücken: "Brecht während der Arbeit kennen gelernt zu haben, gibt die Verpflichtung auf, im allfällig bekannten Methodischen das Lebendige bloßlegen. " Jeden Formalismusvorwurf wischte sie mit ihrer zupackenden Art vom Tisch. "Brecht liebte zwar theoretische Erörterungen, verabscheute jedoch theoretische Entscheidungen. " für Hurwicz war Brecht pralles und sinnliches Volkstheater.Aus einem zweiten Grund hatte Angelika Hurwicz wohl eine besondere Position in der Brecht-Familie. Sie lebte offen lesbisch und kam so auch nie als Brecht-Geliebte in Frage. Es war auch im Berliner Ensemble, wo sie die um 15 Jahre ältere Gerda Goedhart, ihre spätere langjährige Lebensgefährtin, kennen lernte. Goedhart, die Jüdin war und die Bekanntschaft Brechts im Exil in London gemacht hatte, stieß als Fotografin zum Theater. Von ihr ist ein schönes Fotobuch aus dem Jahr 1960 erhalten, das Angelika Hurwicz in ihren wichtigsten Rollen zeigt. Goedhart hatte bereits bewegte Jahre hinter sich, ihr Aufbruch ins Exil nach Amerika brachte sie in ein KZ nach Japan, aus dem ihr mit ihrem damaligen Ehemann, einem Schiffsarzt, die Flucht gelang. Zurück in Berlin wollte die ausgebildete Kindergärtnerin etwas Neues anfangen und begann, ohne groß eine Ausbildung zu machen, mit dem Fotografieren. Gerda Goedhart war wohl das Gegenteil der scheuen und zurückgezogenen Angelika Hurwicz. Sehr offen, jemand, der unbefangen auf Menschen zugeht, und der an allem Neuen sofort teilhaben möchte.Als Gerda Goedhart später durch eine Augenkrankheit gehandicapt war, zog sich auch Angelika Hurwicz weitgehend aus dem Theater zurück, um ihre Freundin zu pflegen. Schon in ihrer Zeit am Burgtheater (1978-1984), wo ihr schöne Erfolge mit Stücken von Sternheim glückten und sie einen viel diskutierten "Professor Bernhardi" mit Norbert Kappen in der Titelrolle inszenierte, hat sie nie mehr als eine Regiearbeit pro Jahr gemacht. Bereits damals meinte sie in einem Interview, das Leben bestehe doch nicht nur aus Theater.Ab 1986 zog sie mit ihrer Lebensgefährtin endgültig nach Bergen, einem kleinen Dorf im Norden von Holland, direkt am Meer. 1994 starb Gerda Goedhart, die immer große Angst hatte, ihre Freundin würde nach ihrem Tod völlig vereinsamen. Hans-Dieter Roser Angelika Hurwicz und er haben sich am Burgtheater kennen gelernt, wo Roser der Bürovorstand des Direktors war blieb bis zuletzt ein enger Freund. Er erzählt, ihre letzten Jahre habe sie vor allem lesend verbracht, mindestens 300 Seiten pro Tag und quer durch die Bank, von Belletristik bis Naturwissenschaft. Für Mathematik hatte sie ein besonderes Faible. Immer wichtiger wurden ihr auch die Spaziergänge durch die Dünen und das Beobachten der Natur.Den ganzen letzten Oktober hat sich Hurwicz noch in Wien aufgehalten, war voller Tatendrang. Dass sie Krebs hatte, wusste niemand, nicht einmal sie selbst. Wien mochte sie, hier hatte sie seit den 60er-Jahren, als sie Schauspielerin am Theater in der Josefstadt war, noch eine Wohnung. Damals hat sie sich entschieden doch hauptsächlich Regie zu führen. Am Wiener Burgtheater war sie 1978 überhaupt die erste Frau, die inszenierte. Und dort spielte sie auch ihre letzte Rolle. 1986 hatte sie einen winzigen Auftritt als "Die Bäuerin" in der "Mutter Courage", in jenem Stück also, mit dem alles begonnen hatte.Obwohl sie zuletzt zurückgezogen lebte interessiert an Theater war sie bis zuletzt, wenngleich sie mit vielem nichts mehr anfangen konnte. In einem Brief an Hans-Dieter Roser ist sie gut gelaunt, spöttelt über dies und jenes. Am meisten darüber, wie "alt" sich das anhört, was das junge Team um Thomas Ostermeier von sich gibt das klinge doch wie vor 25 Jahren. Den Neuanfang der Schaubühne hat sie nicht mehr erlebt.Zur Erinnerung an Angelika Hurwicz lesen am 8. Februar auf der Probebühne des Berliner Ensembles Katharina Thalbach und Thomas Brasch aus ihrem unveröffentlichten Roman "Der neue Hamlet". Freunde von Angelika Hurwicz haben eine Homepage eingerichtet: http://pages. whowhere. lycos. com/arts/angelika. hurwicz/ Man sieht es auf den zweiten Blick: Sie hat gerne die Naive gespielt und war dabei sehr schlau.Angelika Hurwicz (1922 1999), hier als Kommissarin in der "Optimistischen Tragödie", 1958 am Berliner Ensemble.