Boris Chasanow erkundet Rußland in seinem Brennpunkt: Ein Vorstoß ins Innere des Kohlkopfs

Ach Rußland, undurchschaubares, wohl dem, der dir entronnen ist! So hat vielleicht der Stoßseufzer geklungen, den sich der Emigrant Boris Chasanow mit seinem neuesten Roman von der Seele geschrieben hat. O Rußland, grausiges Märchenland, wo findet man noch einmal solche Erzählstoffe! So könnte der zweite Seufzer des Autors gelautet haben. Womöglich sieht irgendwann jede Erinnerung derart doppeldeutig aus, es sei denn, es wäre die eines Unerbittlichen. Chasanow aber hat den jüdischen Humor, der das Gedächtnis an sehr viel Verzweiflung bewahrt, aber dennoch oder gerade deshalb die komischen Seiten des Tragischen zu sehen versteht.Am Anfang dieser Geschichte springt ein Intellektueller, offensichtlich gerade aus dem Straflager entlassen, in der tiefen russischen Provinz der 60er Jahre aus dem Zug. Daß er in die Kleinstadt N. gerät, die er weder vorher noch hinterher auf einer Landkarte findete, ist eine Art Flucht. Im verwirrenden Gestrüpp aus Meldevorschriften, Inlandspässen und Ansiedelungsvermerken hat schon der Argwohn eines Schaffners gereicht, um ihn bei der ersten Gelegenheit aus dem Zug springen zu lassen. Eine geisterhafte Welt zeichnet Chasanow, verfallende Kulissen mitten im "Brennpunkt Rußlands", in den man "immer zudringlicher, immer tiefer und unabweisbarer" hineingezogen wird. Zum Nebulösen der ganzen Angelegenheit gehört natürlich, daß der in Ich-Form geschriebene Text auf undurchschaubaren Wegen in die Hände eines Herausgebers gelangte, der sich seiner annahm.Für Moisejitsch, dem Flüchtling, unfreiwilligen Helden und Ich-Erzähler, gestaltet sich alles per Zufall. Das Unterkommen im Hotel, seltsame Bekanntschaften, die Ladung zur Miliz unter absurder Verdächtigung, schließlich das privat gemietete Zimmer und eine Liebschaft, alles erscheint wie aus dem Nichts und entfaltet sich doch zu einem zwanghaften Sog. Plötzlich sieht sich dieser jüdische Intellektuelle, eine allegorische Figur, verstrickt in die absurdesten und dunkelsten Zusammenhänge und kann doch nicht anders, als einen verborgenen Sinn zwischen den Schlammwüsten und bröckelnden Siedlungen zu suchen.In einer Klosterruine scheint ein solcher Orientierungspunkt der Vernunft noch am ehesten auffindbar, denn hier trifft sich die dubiose "Gesellschaft zur Pflege des Altertums". Deren Vorsitzender theoretisiert als "Zauberlehrer" und bestreitet praktisch seinen Lebensunterhalt als lässig-professioneller Bettler. Verunsichert durch den eigenen Status als de facto Rechtloser, klammert sich Moisejitsch an die einzige geistige Autorität in der Schattenwelt, den Guru aus der Klosterruine. Dieser Kusma Kusmitsch, eine urrussische Figur, eine Kreuzung aus Grigori Rasputin und Luka, dem Pilger in Gorkis "Nachtasyl", ein Prophet, der Wissenschaft und Christentum zu versöhnen sucht, ist alles: antisemitischer Narr in Christo und daher vom "Volk" geachtet, philosophierender Sonderling mit Erweckungsgelüsten, cleverer Schnorrer, der die Naivität seiner Umgebung zu nutzen versteht. Unversehens wird er zur Leitfigur für den entwurzelten Moisejitsch, der sich ihm schwärmerisch andient als "sein Evangelist, sein Plutarch, sein Eckermann" und eifrig die verblüffenden, wenn auch nie ganz unsinnigen Weltbilder des Heilsstifters für die Nachwelt notiert."Rußland ist wie ein Kohlkopf - die äußeren Blätter werden abgenommen, säkularisiert, aber der dunkle, nationale, sakrale Kern bleibt", notierte der Installationskünstler Ilya Kabakov einmal. Chasanows Roman ist - so betrachtet - der Vorstoß ins Innere des Kohlkopfs. Schicht um Schicht wird freigelegt, ironisch, doch nie verächtlich. Der "nationale Kern" wird freigelegt, und er erweist sich als ambivalent: von wilder Vitalität zum einen, weil es in den verfallenden Kulissen brodelt und pulst. Arrangements werden getroffen, Geschäfte abgewickelt, Beziehungen festgeklopft, das alles unter dem Mantel einer Art Trägheit und duldender Gleichgültigkeit, die man freilich ebenso als Unerschütterlichkeit und innere Kraft lesen könnte. Und noch die Empfänglichkeit für Heilsbotschaften aller Couleur verweist schließlich auf einen Sinn für die Zukunft. Zum anderen wendet sich diese Vitalität immer wieder gegen sich selbst, wird zur grotesken und destruktiven Kraft.Denn in allem steckt ein nagender, schicksalhafter Erreger des Verfalls, der die Wirklichkeit zerfranst. Die offizielle Sowjetpropaganda, vertreten durch den wodkaseligen und jovialen Polizeichef, spricht von Kartoffelkäfern und Krebserregern, die "Amerika" über die Sowjetunion abwirft. Der frömmelnde Philosophen-Guru entpuppt sich als Vize-Vorstand eines Bettlerkonzerns, ein russischer Peachum, der auch den sexuellen Lockungen nicht ganz so stark wehrt, wie er es gern predigt. Alles gerät zur Farce und noch der Hund in der Geschichte wird zum sprechenden "Koadjutor" und philosophiert munter mit.Von Episode zu Episode taumelt der Intellektuelle durch diesen Wirrwarr, wittert er den historischen Kontinuitäten im Ablauf der Ereignisse nach. Aber auch die Suche in den Historien und Legenden kann die Verwirrung nur steigern, weil die Bilder und Erzählebenen ineinanderstürzen, bis nur noch ein ironischer Kommentar übrigbleibt und selbst die Erinnerung an die legendäre Siegesverheißung vor der Schlacht auf dem Ladogasee allenfalls als Wink für einen glücklichen Beischlaf verstanden werden kann.Am Ende dieser Geschichte - da ist der Zauberlehrer" einem brutalen Mord zum Opfer gefallen - flüchtet Moisejitsch zum Bahnhof und in einen x-beliebigen Zug. Das Drama des ewigen jüdischen Intellektuellen in den russischen Welten ist wieder an seinem Ursprung angelangt. Auf eine rasante und geradezu magische Art hat Chasanow diesen Kreis gezeichnet, changierend zwischen Alptraum, Groteske und Essay.Boris Chasanow: Der Zauberlehrer. Roman. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 253 Seiten, 39,80 Mark. +++