„Breaking the Silence“: Israelische Soldaten berichten über Krieg in Gaza
Inge Günther - „Wenn du in einem Panzer sitzt und vier, fünf Tage herumfährst, keinen Schlaf bekommst, dann döst du als Soldat öfters weg. Also schießt du die ganze Zeit, um eine Art Wachsamkeit aufrecht zu erhalten.“ Wie banal Krieg sein kann, schildert ein Unteroffizier der israelischen Armee, der letzten Sommer an der Bodenoffensive in Gaza teilnahm. „Alle halbe Stunde oder Stunde feuerten wir, um eine Gefechtsatmosphäre zu erzeugen.“ Seine Panzereinheit war nach Schadschaijah, einem Vorort von Gaza-City, vorgerückt. Dass dort noch Zivilisten ausharrten, war kein Thema. „Jeder, der in Sichtweite gerät, gilt als Verdächtiger.“ Draufhalten entsprach dem Einsatzbefehl.
Der Unteroffizier ist einer von sechzig israelischen Soldaten, die über ihre Kriegserlebnisse in Gaza bei der linken Reservistenorganisation „Breaking the Silence“ Zeugnis ablegten. Ihre Namen werden nicht genannt, viele dienen in der Infanterie, einige gehören zur Luftwaffe oder Marine. Eine Linie allerdings zieht sich durch ihre Aussagen, die Breaking the Silence am Montag in einem Report herausgab: Der Einsatzbefehl erlaubte freizügigsten Waffengebrauch: „Haltet auf jeden, der wagt seinen Kopf zu zeigen“ oder „der nicht gerade unschuldig aussieht.“
2100 tote Palästinenser in 50 Tagen
Die Terminologie in den Aussagen ähnelt sich. „Wenn sechzig Soldaten aus unterschiedlichen Einheiten so die Gefechtsregeln beschreiben“, meint Avihai Stollar, Leiter des Rechercheteams von Breaking the Silence, sei das ein klarer Beleg, „dass die Order dafür von ganz oben kommt“. Es handele sich um das gleiche Leitprinzip wie schon bei der Gaza-Offensive vor sechs Jahren: „Nicht zögern, bevor ihr schießt.“ Nur sei es diesmal noch rücksichtsloser angewandt worden. Über 2100 Palästinenser starben in den 50 Kriegstagen der Operation „Schutzkante“, überwiegend Zivilisten. Auf israelischer Seite kamen über siebzig Menschen um, meist Soldaten.
Die Armee warf zwar vor Beginn der Bodenoffensive Flugblätter ab und verschickte SMS, um Bewohner zum Verlassen ihrer Häuser aufzufordern. „Doch die Logik, ‘wir haben sie gewarnt‘, führte zu dem Schluss, ‘wir brauchen uns nicht mehr zu kümmern‘“, meint Stollar. Man ging einfach davon aus, im Kampfgebiet hielten sich ja ohnehin nur noch Hamas-Militante auf.
Auch beschreiben viele Soldaten, wie sie abstumpften, je länger der Krieg dauerte. „Mein moralischer Kompass ging verloren.“ Eines Nachmittags, berichtet ein Soldat, habe der Wachposten auf einen alten Mann gezielt. „Der Zivilist lag da und krümmte sich vor Schmerzen.“ Schließlich habe ein D-9-Bulldozer – der schwerste, über den Israels Armee verfügt –„eine Ladung Dreck auf ihn geschüttet, und damit war die Geschichte zu Ende“. Im anderen Fall wurden zwei Palästinenserinnen, die auf einem Feld spazierten, mit Hilfe einer Drohnenkamera gesichtet. Der Bataillonskommandant erteilte den Schießbefehl. Tatsächlich waren die Opfer unbewaffnet, wurden aber im Einsatzbericht als „Terroristen“ aufgeführt.
„Ich bin sicher, die Gefechtsbefehle für Gaza waren illegal.“
Der israelische Bürgerrechtsanwalt Michael Sfard jedenfalls sieht in dem Aussagenmaterial genügend Hinweise, , dass die Kriegsdoktrin internationales Gesetz verletzt habe. „Ich bin sicher, die Gefechtsbefehle für Gaza waren illegal.“ Die Armee habe sowohl das Prinzip der Verhältnismäßigkeit missachtet als auch den Schutz von Zivilisten. „Vorsichtsmaßnahmen wie Flugblätter ersetzen nicht die Notwendigkeit, zwischen Kämpfern und Zivilisten zu unterscheiden.“
Den Aktivisten von Breaking the Silence geht es noch um anderes. Sie wollen die israelische Öffentlichkeit wach rütteln. „Sie schickt die Armee in den Krieg. Und natürlich will sie nicht, dass ihre Kinder in Särgen heimkehren. Aber sie hat keine Ahnung, was das für die Soldaten heißt“, sagt Stollar. Die Organisation fordert jetzt eine unabhängige Untersuchungskommission in Israel. Militärinterne Ermittlungen, die in wenigen Fällen zu Disziplinarverfahren führten, reichten nicht aus.
Die Armee indes stellt Breaking the Silence als Netzbeschmutzer hin. Man verfolge glaubwürdige Beschwerden, wird versichert. Aber die „Schweigebrecher“ weigerten ihre Beweise vorzulegen. Ganz stimmen kann das nicht. In einem Brief vom 23. März an Generalstaatschef Gadi Eisenkot bot die Reservistenorganisation ein Treffen an, um Einsicht in die gesammelten Aussagen der Soldaten zu geben. Die Armeeführung hielt es nicht für nötig, darauf zu antworten.