Cannabis: Das uruguayische Experiment

Es war ein Tag im Januar, als der Kleingarten von Alicia Castilla, 68 Jahre alt, von fünf Polizeistreifen umstellt wurde. Jemand hatte Alicia Castilla verraten. „Die Polizei war wohl auf der Suche nach der weiblichen Variante des kolumbianischen Drogenbosses Pablo Escobar“, sagte Alicia Castilla später in einem Interview. Sie fanden eine grauhaarige alte Dame, die liebevoll 29 Cannabispflanzen in ihrem Garten gezüchtet hatte. Sie wurde festgenommen und verbrachte 95 Tage im Gefängnis.

Zwei Jahre ist die Razzia in Alicia Castillas Kleingarten nun her. Eine groteske Überreaktion des Staates. Denn in Uruguay ist der Drogenhandel zwar verboten, aber der Marihuanakonsum erlaubt, und zwar schon seit 1975. Die Herkunft des Stoffes ist also eine Grauzone.

Doch nun wurde Alicia Castillas Fall zum Anlass für eine der bemerkenswertesten Reformen in ganz Lateinamerika: In Uruguay soll der Staat den Vertrieb von Marihuana übernehmen. Ein Gesetzentwurf sieht eine neue Behörde vor, die den Anbau und den Verkauf von Marihuana übernimmt und reguliert. Auch der Eigenanbau – sechs Pflanzen pro Person – soll gestattet sein.

„Ich fürchte nicht die Drogen, sondern den Drogenhandel“, sagt Präsident José Mujica. „Ich muss immer mehr Geld für die Polizei, für die Gefängnisse und all die Folgen ausgeben, und dabei fehlt mir das Geld für die Kranken.“ José Mujico, ein Ex-Guerrillero, 77 Jahre alt, will zwar selbst noch nie einen Joint geraucht haben, trotzdem sagt er: Wenn der Staat das Marihuanageschäft übernehme, dann sei die Gefahr gebannt, dass Dealer ihren Kunden härtere Drogen aufdrängen. Paco, die regionale Variante von Crack, ist ein großes Problem in Uruguay.

In der Hauptstadt Montevideo ist das Rauchen von Marihuana sozial akzeptiert, nicht aber auf dem Land. 64 Prozent der 3,2 Millionen Uruguayer sind gegen den Gesetzesentwurf. Der ist auf seinem Weg durchs Parlament immer wieder auf Widerstand gestoßen. Zu den Gegnern gehört Mujicas Vorgänger Tabaré Vázquez, ein Krebsspezialist, der gute Chancen hat, nach Mujica nochmal Präsident zu werden.

„50 Jahre falsche Drogenpolitik“

Einer der Initiatoren des Entwurfs ist Julio Bango. „Die bisherige Drogenpolitik leitet uns seit fast 50 Jahren weltweit und hat sich als absoluter Fehlschlag erwiesen“, sagt er. Diese Meinung ist in Lateinamerika inzwischen sehr verbreitet, weit über das kleine Uruguay hinaus.

„Wir denken, dass der weltweite Krieg gegen die Droge heutzutage mehr Schaden anrichtet als der Drogenmissbrauch selbst“, schrieben schon 1998 einige Ex-Staatschefs aus Lateinamerika an UN-Generalsekretär Kofi Annan. Zehntausende waren damals bereits im kolumbianischen Drogenkrieg umgekommen. Er begann zu der Zeit, auf die Nachbarländer überzugreifen. Unterdessen machte die kolumbianische Regierung ihre Militärs zu Polizeieinheiten und ließ sie im Rahmen des bereits 1972 von Richard Nixon ausgerufenen „War on Drugs“ – des Kriegs gegen die Herstellung, den Handel und den Konsum von Drogen – Kokaplantagen mit hochgiftigen Herbiziden zerstören.

In dieser Zeit zur Legalisierung von Drogen aufzurufen, war ein Tabu. Heute wird dieser Vorschlag offen diskutiert. Den Durchbruch brachte 2012 ein Gipfel der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im kolumbianischen Cartagena. Die Staatschefs diskutierten dort zwar keine Alternativen zum absoluten Verbot, aber sie waren sich immerhin einig, dass die Wirksamkeit der repressiven Politik überprüft werden müsste.

Das Sekretariat der OAS veröffentlichte daraufhin einen gut hundert Seiten starken Bericht mit dem Titel „Das Drogenproblem in Amerika“. Der enthielt zwar kaum Daten, die nicht schon woanders in ähnlicher Form publiziert worden waren. Neu aber war, dass der Bericht eindeutig für eine Liberalisierung plädierte. Der OAS-Generalsekretär José Miguel Insulza präsentierte ihn wie eine Grundsatzerklärung: Im Juli reiste er nach Montevideo, um Präsident Mujica den Report zu überreichen. Eine deutliche Geste der Unterstützung für das uruguayische Experiment.

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Auf Amerika entfallen dem Bericht zufolge 151 der 320 Milliarden Dollar, die jährlich weltweit mit Drogen umgesetzt werden. 40 Milliarden sei das Kokain wert, das in Amerika verbraucht wird, rund 800 Tonnen Kokain würden in Kolumbien, Peru und Bolivien erzeugt – im Wert von 84 Milliarden Dollar.

Das sind grobe Schätzungen. Für Marihuana schwanken die Angaben noch stärker, schließlich wächst die Pflanze so gut wie überall in den wärmeren Teilen des Kontinents. Aber dem Bericht zufolge konsumieren weltweit drei bis vier von fünf Konsumenten illegaler Drogen Cannabis. Es hat also durchaus Sinn, mit der Liberalisierung bei Marihuana zu beginnen.

Staaten vor dem Zusammenbruch

Wenn ein Kokablatt als weißes Pulver beim Konsumenten ankommt hat es seinen Wert um das Fünfhundertfache gesteigert. Diese riesigen Profite, so die Annahme, gehen einher mit der Gewalt, die ganze Staaten an den Rand des Zusammenbruchs bringt. 40 Prozent der Morde hängen in Kolumbien mit dem Drogenhandel zusammen, heißt es in der Studie der OAS.

Während die Profite umso größer werden, je näher die Droge dem Endverbraucher kommt, sinkt die Gewalt. Nach der Schlussfolgerung des Berichts ist es eher die Schwäche des durch Drogenhandel korrumpierten Staates in den Erzeuger- und Transitländern, die Gewalt nach sich zieht, und nicht der Profit des Drogenhandels an sich.

Dass eine Liberalisierung auch negative Folgen hätte, leugnet der Bericht nicht. Ohne die Profite des Handels würden Drogen billiger. Damit könnten Konsum und Abhängigkeit steigen und sich in sozialen Schichten ausbreiten, die bisher davon weitgehend verschont waren. Die Folgen wären zerrüttete Familien, vernachlässigte Kinder und zerfallende Sozialstrukturen. Der Staat müsste das auffangen, vielleicht könnte er das, wenn er, wie Uruguays Präsident Mujica sagt, weniger Ressourcen für Polizei und Gefängnisse ausgeben müsste.

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Die Hoffnung, die Gewalt einzudämmen, ist das stärkste Argument für eine Liberalisierung. Auch die Zahl an einer Überdosis sterbender Konsumenten dürfte stark zurückgehen, wenn der Stoff, weil er staatlich kontrolliert würde, immer die gleiche Qualität hätte. Drogenkonsum sollte in erster Linie als Problem der Volksgesundheit und nicht der Strafverfolgung angesehen werden, heißt es in dem Bericht. Was genau geschehen soll, dazu gibt er jedoch kaum Empfehlungen.

In den Gefängnissen Lateinamerikas zumindest würde sich die Lage wohl extrem entspannen. Das hat das Transnational Institute in Holland bereits 2010 festgestellt, das seit Jahren für die Liberalisierung plädiert. Wegen der strengen Drogengesetze sei etwa in Argentinien der Anteil der wegen Drogendelikten Inhaftierten zwischen 1985 und 2000 von einem auf 27 Prozent gestiegen; in Ecuador werde Drogenhandel unter Umständen härter bestraft als Mord. Die strengen Gesetze, so das Institut, hätten weder Produktion, Handel oder Konsum eingeschränkt, dafür aber Zehntausende wegen des Handels oder Besitzes kleinster Mengen hinter Gitter gebracht. So wie Alicia Castilla, die Kleingärtnerin aus Uruguay.