Die Veröffentlichung von Chatnachrichten aus regierungsinternen WhatsApp-Gruppen wirft in Großbritannien ein neues Schlaglicht auf die politischen Entscheidungen während der Corona-Pandemie.
„In den kommenden Tagen werden wir erschütternde Details über die Pandemiebekämpfung bekannt geben, die bisher geheim gehalten wurden.“ Das kündigte die britische Zeitung Telegraph Anfang der Woche an und veröffentlicht seitdem in einer mehrteiligen Serie die brisanten Chatnachrichten zwischen dem ehemaligen Gesundheitsminister Matt Hancock und dessen Ministerstab während der ersten Phase der Pandemie.
Diese Nachrichten bieten einen Einblick in die Hintergründe einiger wichtiger Entscheidungen, die zu Beginn der Pandemie von der britischen Regierung getroffen wurden – damals noch unter der Führung von Boris Johnson.
Opferte die britische Regierung Pflegeheimbewohner zugunsten von Massentests?
Eine der wichtigsten Fragen des gesamten Pandemiemanagements, nicht nur in Großbritannien, ist der Umgang mit den Bewohnern der Pflegeheime. Aus den bisher veröffentlichten Chatprotokollen gehe hervor, dass Hancock im Frühjahr 2020 im Bezug auf die Teststrategie in britischen Pflegeheimen den wissenschaftlichen Rat ignoriert habe, alle Bewohner sowie alle Pflegekräfte in den Heimen zu testen, und stattdessen einen eigenen Kurs gefahren habe. Das sei aus politischem Kalkül geschehen, suggeriert der Telegraph. In einer Nachricht vom April 2020 schreibt Hancock, dass mehr Testungen in Heimen die verfügbare Testkapazität für die Gesamtbevölkerung „nicht beeinträchtigen dürfen“.
Das deckt sich mit den Vorwürfen, die ein ehemaliger Berater von Boris Johnson bereits 2021 gegen Hancock erhoben hatte: Der Gesundheitsminister wollte das angekündigte Ziel von 100.000 täglichen Testungen für die Gesamtbevölkerung in Arztpraxen und Krankenhäusern erreichen, doch in der ersten Phase der Pandemie standen schlicht zu wenig Testmöglichkeiten zur Verfügung, und so seien Beamte des Gesundheitsministeriums angewiesen worden, die Covid-Tests in den Heimen zurückzuhalten. Die Vorwürfe wiegen schwer, vor allem angesichts der Tatsache, dass in den ersten drei Monaten der Pandemie in britischen Pflegeheimen mehr als 40.000 Menschen gestorben sind – das entspricht rund 30 Prozent der gesamten Covid-19-Todesfälle in Großbritannien.
Lockdown, Schulschließungen, Maskenpflicht als politische Entscheidungen?
Weitere Enthüllungen der „Lockdown Files“ betreffen die Maßnahmen gegen die Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht an die Regeln hielten. Obwohl der erste Lockdown in Großbritannien 2020 relativ spät im Vergleich zum restlichen Europa eingeführt wurde, waren die Kontaktbeschränkungen streng und sollten laut Hancock durch eine „harte Hand“ seitens der Polizei begleitet werden.
Der Wunsch nach einem strengen Kontrollapparat taucht in den Chats wiederholt auf, auch anhand konkreter Beispiele: Mitglieder von Hancocks Team schlugen etwa in einem Chat vor, den Brexit-Vorkämpfer und Lockdown-Kritiker Nigel Farage „einzusperren“, nachdem dieser ein Video von sich in einem Pub in Kent getwittert hatte. Das alles, während Regierungsbeamte in Downing Street 10 illegale Partys feierten – eine Affäre, die unter dem Namen „Partygate“ bekannt wurde.
Auch die Entscheidungen über Schulschließungen und Maskenpflicht in Schulen seien laut Einschätzung der damaligen Entscheidungsträger ohne wissenschaftliche Evidenz getroffen worden. Die Lockdown Files geben Hinweis darauf, dass der Gesundheitsminister immer wieder von Experten dazu aufgefordert wurde, die Schulen wieder zu öffnen, sich jedoch weigerte. Als die Schulen wieder geöffnet wurden, habe man den Rat mehrerer Wissenschaftler in Sachen Maskenpflicht erneut ignoriert.
Johnson und seine Regierung hätten sich aus politischen Gründen für die Maskenpflicht an Schulen entschieden – und zwar, um eine Auseinandersetzung mit der schottischen Regionalpräsidentin Nicola Sturgeon zu vermeiden, die eine solche Maßnahme bereits getroffen hatte, schlussfolgert der Telegraph.
Wie kamen die Lockdown Files an die Öffentlichkeit?
Die Journalistin Isobel Oakeshott hatte der Zeitung die Chatnachrichten zur Verfügung gestellt. Sie hatte als Ghostwriterin an Hancocks Memoiren mitgearbeitet und deshalb Zugriff auf die Nachrichten bekommen.
Diese wurden auch der offiziellen Untersuchung zum Umgang mit der Corona-Pandemie zur Verfügung gestellt, die jedoch nur langsam vorankommt und sich noch Jahre hinziehen könnte.
Oakeshott hat die Chatprotokolle trotz Schweigepflicht öffentlich gemacht. Während der Pandemie war sie selbst als Kritikerin der Pandemiemaßnahmen in Erscheinung getreten.
Die Journalistin verteidigt ihren Schritt mit dem Argument, es bestehe ein überragendes öffentliches nationales Interesse an den Inhalten. „Kein Journalist, der etwas auf sich hält, würde in so einer wichtigen und historischen Angelegenheit Informationen zurückhalten“, sagte sie dem Sender BBC.
Die Entscheidung, die Chatprotokolle zu veröffentlichen, begründet der Telegraph wie folgt: „Die Lockdown Files helfen uns, zu verstehen, wer was, wann und wie entschieden hat. Aber sie geben auch einen Teil des Kontextes wieder: die Loyalitäten, Obsessionen und Unsicherheiten, die sie angetrieben haben.“ Und weiter: „Die Nachrichten stellen nur einen Bruchteil der gesamten Gespräche dar. Sie zeigen die Sache aus der Perspektive der Gespräche, an denen Herr Hancock beteiligt war. Aber sie sind ein wichtiges Beweisstück, das nicht nur Gespräche, sondern auch ein psychologisches Profil von Ministern zeigt, die zu dieser Zeit uneingeschränkte Macht genossen.“
Hancock hingegen wirft der Journalistin und dem Telegraph vor, sich nicht an eine Verschwiegenheitserklärung gehalten und sein Vertrauen missbraucht zu haben. In einer offiziellen Stellungnahme bezeichnete er zudem die Leaks als „manipuliert“ und als Teil einer „Anti-Lockdown-Kampagne“.