Das alte Justizgebäude in der Kantstraße hat ausgedient. Einst war es Ort dunkler Geschichte, jetzt wird ein Investor gesucht: Gefängnis zu verkaufen
Die Schwerlasttransporter sind bestellt. Ab kommenden Freitag wird die Nachlassverwaltung für den Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf umziehen: Mit zwei tonnenschweren "Kartomaten", in denen Millionen Karteikarten aufbewahrt werden - mit Vermerken zu sämtlichen Testamenten, die Einwohner dieses Bezirkes über Jahrzehnte bei Gericht hinterlegten. Bislang ist die Nachlassverwaltung in der Kantstraße 79 untergebracht, ab Juni wird sie direkt im Amtsgericht Charlottenburg schräg gegenüber zu finden sein. Denn das Justizgebäude in der Kantstraße wird verkauft, es wird nicht mehr gebraucht. Vielleicht wird ein Hotel dort entstehen, Wohnungen oder Büros. Vielleicht erinnert dann nichts mehr an die dunkle Vergangenheit dieses Ortes.Errichtet wurde der Gebäudekomplex im Jahre 1896/97 nach Plänen von Adolf Bürckner und Eduard Fürstenau. Weil das Amtsgericht gegenüber zu klein wurde, wollten die Stadtväter Charlottenburgs nur die "Civilabtheilungen" dort behalten und die "Strafabtheilungen" auslagern: Sie ließen an der Kantstraße ein eigenes Strafgerichtsgebäude samt Gefängnis errichten.Dessous und RapIm Haus vorn, in dem einst Richter tagten, war zuletzt die Nachlassabteilung untergebracht. Das einstige Gefängnis mit Zellen für rund 100 Häftlinge befindet sich dahinter. Es wurde 1985 geschlossen, aber verändert hat sich am Bau nicht viel: roter Backstein, winzige Fenster mit Gittern davor, schmale Gänge, überzogen mit Maschendraht. Selbst der Stacheldraht auf den Mauern ist noch zu sehen. Die Zellen sind jeweils etwa sechs Quadratmeter groß. In vielen stehen Regale, weil dort Akten lagerten. Im Hof blüht Flieder, vom Straßenlärm ist hinter den Mauern nichts zu hören.So ganz ungenutzt blieb das Haus in den letzten Jahren nicht. Das leerstehende Gefängnis wurde gern für Filmarbeiten genutzt. Szenen für "Der Vorleser" mit Kate Winslet sind dort entstanden, Skandal-Rapper Bushido drehte einen Videoclip, Models präsentierten Dessous in Gefängnis-Atmosphäre.Filmwelt, Spinnweben und Staub haben mit der Zeit die Geschichte überdeckt. Kaum ein Außenstehender weiß noch, was einst hinter diesen roten Backsteinmauern geschah. Während der Nazizeit waren dort Frauen aus dem Widerstand inhaftiert. Viele haben ihre letzten Tage bis zur Hinrichtung in einer der winzigen Zellen verbracht. Der Charlottenburger Karl Dürr, 76 Jahre alt, hat sich aus Interesse mit dem Haus befasst. Er sagt, er hätte sich gewünscht, dass in dem Gebäude eine Gedenkstätte für diese Frauen eingerichtet wird, weil ihr Widerstand häufig ignoriert werde. Dürr erzählt von Frauen aus der Widerstandsgruppe der "Roten Kapelle", 19 von ihnen waren in der Kantstraße 79 inhaftiert. Libertas Schulze-Boysen zum Beispiel, die Frau von Harro Schulze-Boysen, die Material über Gewaltverbrechen an der Ostfront sammelte und auf Flugblättern publik machte. Nach Entdeckung ihrer Verbindungen zur Sowjetunion wurden Libertas und ihr Mann verhaftet und vom Reichskriegsgericht 1942 zum Tode verurteilt. Libertas Schulze-Boysen hat zehn Tage in der Kantstraße verbracht. Sie starb im Alter von 29 Jahren am 22. Dezember 1942 unter dem Fallbeil. Eva-Maria Buch war 21 Jahre alt, Maria Terwiel 32, als sie in der Kantstraße auf ihre Hinrichtung warteten. Beide Frauen, strenge Katholikinnen, haben zwei Monate in den Zellen gesessen. Die Widerstandskämpferin Greta Kuckhoff ist dem Todesurteil entgangen. Sie saß sechs Monate in der Kantstraße, in der DDR war sie später, von 1950 bis 1958, Präsidentin der Staatsbank und dann im Friedensrat aktiv. Sie starb 1981 in Wandlitz.Auch die Politikerin Ottilie Pohl hat viele Nächte im Frauengefängnis Kantstraße verbracht. Sie engagierte sich gegen das Nazi-Regime und war in der "Roten Hilfe Deutschland" aktiv. 1940 wurde sie zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie einen Kommunisten bei Bekannten versteckte. Sie starb 1943 im KZ Theresienstadt.An wen das 3 760 Quadratmeter große Grundstück verkauft wird, ist noch nicht klar. Viele Interessenten hat Hausmeister Fred Köcher durch Räume und Treppenhäuser geführt, Deutsche und Investoren aus Israel, Italien, Holland, Russland, Schweden. Die Lage inmitten der City ist ideal, der Lietzensee nur 250 Meter entfernt. Aber das Objekt ist schwierig. Schwer vorstellbar, dass aus kleinen Zellen Hotelzimmer oder Wohnungen entstehen, große Umbauten sind nicht erlaubt, weil das Haus unter unter Denkmalschutz steht. Es habe einige Angebote gegeben, Verhandlungen würden noch laufen, heißt es beim Liegenschaftsfonds, der das Objekt im Auftrag des Landes Berlin vermarktet.Vielleicht könnte eine Gedenktafel an die Geschichte der Kantstraße 79 erinnern. Er habe das bereits vorgeschlagen, sagt der Charlottenburger Karl Dürr. Das Bezirksparlament habe eine solche Tafel auch begrüßt und zugesichert. Bleibt die Frage, wann sie tatsächlich angebracht wird.------------------------------Foto (3): Im vergangenen Jahrhundert war im Justizgebäude Kantstraße 79 ein Gericht und das Gefängnis untergebracht. Zuletzt beherbergte das Vorderhaus (l.) direkt an der Straße die Nachlassverwaltung des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf. Das Gefängnis im Hinterhaus steht seit 1985 leer. Die alten Zellen wurden für Dreharbeiten genutzt, etwa für Szenen des Hollywood-Hits "Der Vorleser".Weil das Haus nicht mehr gebraucht wird, soll es jetzt verkauft werden.Foto: Hereinspaziert: Für das alte Charlottenburger Gefängnis wird ein neuer Besitzer gesucht. Seit 1985 sitzen in den Zellen keine Häftlinge mehr. Das Haus steht unter Denkmalschutz.