Das alte "Milljöh" der Mietskasernen und Höfe ist im Wedding weitgehend verschwunden - und das ist dem Bezirk ganz recht: An der Müllerstraße wird auch Hummer serviert

Heinrich Zille würde sich über seinen Wedding, sähe er ihn heute wieder, ganz schön wundern. Die Arme-Leute-Romantik ist weg, und die schlimmste Armut auch. Viele Gören würde er nicht verstehen. Sie berlinern nicht mehr, sondern sprechen türkisch. Und vollends würde er wohl an seinem Wedding zweifeln, wüßte er, daß die CDU heute die stärkste Partei im einst roten Wedding ist, daß es an der Delikatessen-Theke in einem großen Kaufhaus an der Müllerstraße Hummer zu essen gibt und daß man in der "Weddinger Ratsstube" am besten italienisch spricht, um die Speisekarte richtig zu verstehen. Der alte Wedding mit dem Zille-Milljöh seiner Mietskasernen und der engen Hinterhöfe ist verschwunden. Was die Bomben im Zweiten Weltkrieg verschont haben, ist zu einem großen Teil der Sanierung zum Opfer gefallen. Heute würde Kurt Tucholsky in seiner "soziologischen Psychologie der Löcher" nicht mehr schreiben: "Die Arbeiter wohnen in einem finsteren Loch , in der Ackerstraße (im tiefsten Wedding) ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder gerade auch aus diesem gekommen. Ein paar Löcher weiter, und das Assessorexamen wäre ihnen sicher gewesen." Eher gilt wohl noch oder wieder, was Theodor Fontane über den Wedding schrieb: "An die Stelle der Fülle, des Reichtums, des Unternehmergeistes treten die Bilder jener prosaischen Dürftigkeit, wie sie dem märkischen Sande ursprünglich eigen sind."Wenn man mit wenigen Worten sagen müßte, was der Wedding heute ist, würde man ihn wohl ein Viertel der kleinen Leute nennen. Ohne Überheblichkeit, nur als soziologische Ortsbestimmung. Die Weddinger hören das nicht gern. Sie wollen die Erinnerung an den Wedding als rückständiges Viertel mit Klassenkampftradition loswerden. In der Tat ist das "Milieu von Armut, Alter und Unbildung" weitgehend neuen sozialen Strukturen gewichen, die dem Berliner Durchschnitt entsprechen. "Man kann mit einer schlechten Wohnung einen Menschen genauso totschlagen wie mit einer Axt", hatte Heinrich Zille gesagt. Nach dem Krieg, in dem fast die Hälfte aller Wohnungen zerstört worden war, wollte der Wedding seinen Anteil an "Licht, Luft und Sonne" haben. Für viele der übriggebliebenen Elendsquartiere mit den Toiletten im Zwischenstock oder auf dem Hof wurde die Abrißbirne bestellt. Mit Hilfe des Senats und der Bundesregierung begann in den sechziger Jahren auf dem Wedding das größte Sanierungsprogramm Europas. Wo viele der alten Mietskasernen stehenblieben, in dem von den Sanierern verschonten "tiefsten Wedding" zwischen Reinickendorfer Straße und Müllerstraße rund um die alte Osram-Fabrik in der Groninger Straße, zogen Ausländer, vor allem Türken ein, die heute fast ein Drittel der Bevölkerung des Weddings ausmachen. Der "rote Wedding" ist längst eine Legende. Es gibt ihn seit der Endphase der Weimarer Republik nicht mehr. Die SPD, nach dem Kriege zunächst stark, ist heute "mehr orange als rot", wie der ehemalige Bürgermeister und heutige Bundestagsabgeordnete Jörg-Otto Spiller sagt. Sie regiert den Wedding nur noch mit Hilfe der Grünen. Während der Weimarer Republik war sie nie Mehrheitspartei. Den Ton gaben die radikale USPD und die Kommunisten und zum Schluß die Kommunisten und die Nazis an. Der Hauptfeind waren für die Kommunisten aber die Sozialdemokraten, die sie auf Geheiß Stalins als "Sozialfaschisten" diffamieren mußten. Einmal zumindest verhielten sich die Sozialdemokraten so, als ob sie dieser Vorwurf zu Recht trifft. Aus Furcht vor Straßenschlachten zwischen Kommunisten und Nazis und einem "roten Putsch" verbot der sozialdemokratische Polizeipräsident Berlins, Zörgiebel, 1929 die Demonstrationen zum 1. Mai und ließ auf zuwiderhandelnde Demonstranten schießen. Beim "Blutmai" in der Kösliner Straße kamen 19 Menschen ums Leben.Die Kösliner Straße ist auch heute noch eine der ärmsten Straßen. Zwischen ihr und der nahen Müllerstraße, dem Ku'damm des Wedding, scheinen Welten zu liegen. Am Tage eine pulsierende Geschäftsstraße mit einem Anflug von Eleganz ist aber auch die Müllerstraße am Abend trotz allen Lichterglanzes "tot". Man sieht kaum mehr Menschen als in den immer noch schlecht beleuchteten schummerigen Nebenstraßen. Nicht viel anders sieht es am Gesundbrunnen, dem anderen "großstädtischen" Zentrum des Bezirks aus. Obwohl mit fast 170 000 Einwohnern eine "Großstadt" hat der Wedding den Charme und das Leben einer Kleinstadt. Man spricht hier von Wilmersdorf oder Charlottenburg, als ob diese Bezirke zu einer anderen Stadt gehörten. Das gilt auch für das benachbarte Prenzlauer Berg, das immer noch so fern ist wie zur Zeit der Mauer. Früher - vor der Teilung der Stadt - waren die Übergänge fließend und die Ähnlichkeiten groß. Vielleicht erklärt das die Abneigung vieler Weddinger gegen die Zusammenlegung mit dem Nachbarbezirk. Der Prenzlauer Berg ist noch ärmer als der Wedding, und selbst im Rathaus in der Müllerstraße befürchtet man, daß der neue Bezirk zum Armenhaus Berlins werden könnte, ein trauriges Erbe, von dem sich der Wedding in den letzten Jahrzehnten befreit hat. Dennoch: Er ist eine Schlaf- und Arbeitsstadt geblieben, und der neue bescheidene Wohlstand ist nicht ungefährdet. Die Zahl der Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger liegt über dem Westberliner Durchschnitt. Die Maschinenbau- und Elektroindustrie, früher Fluch und Segen des Industriebezirks, ist pleite oder weggezogen. Die AEG, einst ein Musterbeispiel deutsch-jüdischen Unternehmertums, gegründet von der Familie Rathenau, und der Stolz des Bezirks, ist nur noch Geschichte. Auch Siemens-Nixdorf, Nachfolger auf dem AEG-Gelände am Humboldthain, ist schon wieder weg. Der Bezirk setzt nun seine Hoffnungen auf einen High-Tech-Park vieler kleinerer Firmen auf diesem Gelände. Geblieben ist nur noch der Chemiekonzern Schering. Aus einer Apotheke in der Chausseestraße hervorgegangen, erfreut er sich ungebrochener, wachsender wirtschaftlicher Gesundheit, von der auch der Bezirk profitiert. Ein bißchen bedauert man allerdings im Rathaus, daß viele der Besserverdienenden des Unternehmens woanders wohnen. Der Wedding ist besser und auch schöner als sein Ruf. Selbst der Baedeker widmet ihm ein ganzes Kapitel, erinnert an seine Sehenswürdigkeiten, darunter zwei von Schinkel erbaute Kirchen, beschreibt den Schiller-Park und den Volkspark Rehberge, würdigt den Beitrag, der auf dem Wedding im Rudolf-Virchow-Krankenhaus und im Robert-Koch-Institut zur Volksgesundheit und zur medizinischen Forschung geleistet worden ist. Im guten wie im schlechten leben die Weddinger immer noch im Schatten ihrer Geschichte. +++