Das ARD-Kammerspiel "Alles Liebe" mit Hannelore Elsner gehört zum Besten, was das Fernsehjahr bisher zu bieten hatte: Ein Stück wahres Leben
Es darf nicht viel kosten, weil Nettchen ja alleinerziehend und also notorisch pleite ist. Es darf auch nicht lange dauern, denn Kathi ist in ihrer Firma unabkömmlich. Laurenz wäre ohnehin für eine Küchenmaschine oder sechs schöne Weingläser gewesen. Aber zu Mamis 65.Geburtstag, darin sind die drei sich dann doch einig, muss es etwas Besonderes sein: In einem Anfall regressiver Erinnerungsromantik beschließen Kathrin, Laurenz und Annette, ihrer verwitweten Mutter einen Familienausflug zu schenken. Drei Tage lang, damit Kathi nicht zu lange weg ist. Im verwaisten Ferienhaus am See, damit es nicht viel kostet. Und mit drei Überraschungsgästen, damit Laurenz nicht auf seine Freundin verzichten muss.Am besten beidesGanz am Ende des Films wird Mami aussprechen, was die Zuschauer gleich zu Anfang erfahren haben: Viel lieber als mit den Kindern ins Bayerische Land, wäre Irma nach Kapstadt gereist. Oder hätte mit dem netten Verkäufer aus dem Plattenladen Geburtstag gefeiert. Oder sogar beides. Aber so weit würde Irma noch nicht einmal zu denken wagen. Früh hat sie sich für ein Leben ohne eigene Bedürfnisse entschieden. Hat den Bauunternehmer Fritz geheiratet, drei Kinder erzogen und die Sommerferien in einem Ferienhaus am See verbracht, das nie fertig wurde, weil es nur Fritzens Ferienhobby war. Bis eines Tages die Kinder groß, der Mann tot, und Irma und das Ferienhaus irgendwie übrig waren.In der tragikomischen Familiengeschichte von Drehbuchautorin Beate Langmaack geht es um nicht weniger als um die Frage Wie sollen wir leben? So erfolgsorientiert wie Kathrin (Caroline Eichhorn)? So ziellos wie Nettchen (Julia Brendler)? So vergnügungssüchtig wie Laurenz (Axel Schreiber)? Oder so selbstlos wie Irma (Hannelore Elsner)?In dem düsteren unbehauenen Landhaus am See, das für die Kinder der Ort vieler schöner Ferienerinnerungen ist, für Irma aber "nie Heim, sondern immer eine offene Wunde" war, führt "Alles Liebe" mit viel Feingefühl für menschliche Schwächen und erzählerische Zwischentöne die modernen Lebensmodelle unserer Gesellschaft zusammen. Knapp, aber präzise führt uns Regisseur Kai Wessel in die Lebensumstände von Kathi, Netti und Lori ein. Vor allem Caroline Eichorn brilliert in ihrer Rolle der Erstgeborenen, die immer dem Vater imponieren wollte und ihre Mutter seit Langem für deren Mütterlichkeit verachtet: "Sag mir mal einen Grund, warum ich stolz auf dich sein sollte?", wirft Kathi ihrer Mutter mit pubertärem Trotz an den Kopf. Da wurde sie freilich von Irma schon mehrfach wegen ihrer Kinderlosigkeit gedemütigt.Hannelore Elsner spielt die passiv aggressive Mutterfigur, die ihre Kinder mit handgewickelten Kohlrouladen an sich binden will und sie doch insgeheim um deren ichbezügliche Selbstständigkeit beneidet, mit der gleichen inneren Glut wie in Doris Dörries "Kirschblüten". Kai Wessels unaufdringliche, aber doch ambitionierte Inszenierung und Judith Kaufmanns kongeniale Kameraarbeit lassen Elsner und ihren durchweg präzise agierenden Ensemblekollegen genügend, aber eben auch nie zu viel Raum, um aus den lebensklugen Dialogen von Beate Langmaack ein Stück wahres Leben zu machen.Artifiziell und realistisch zugleichMan muss lachen und mitleiden, staunen und den Kopf schütteln, wie sich diese Familie mit Lust und Verzweiflung selbst zerlegt. Artifiziell und realistisch zugleich gehört dieses Kammerspiel zum Besten, was das Fernsehjahr 2010 bisher zu bieten hatte. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sich "Alles Liebe" die heute so üblichen Überdramatisierungen konsequent spart: Es wird niemand im Affekt erstickt oder im Suff erschlagen. Die familiäre Gewalt spielt sich durchweg mit Worten, also im bürgerlichen Rahmen ab. Die Entgleisungen sind keine effektvollen dramaturgischen Behauptungen, sondern präzise Alltagsbeobachtungen. Gerade das macht diesen Film so sehenswert.-----------------------Alles Liebe, 20.15 Uhr, ARD------------------------------Foto: Irma (Hannelore Elnser) sottet mal wieder was Feines für die liebe Familie.