Das Setzkastenmusical "Der Glöckner von Notre Dame" am Potsdamer Platz: Charmant wie ein Stein
Wenn es zu vielen gefällt, dann kann es nicht gut sein. Das wird ewig bestritten. Aber es ist so." Das sagt der Regisseur Egon Günther, der selten befürchten mußte, daß seine Filme zu vielen gefallen könnten. Sein Spruch klingt nach einer eitlen Schutzbehauptung, hat aber wohl allein mit der Angst des Filmemachers zu tun, eine gefällige Massenware abzuliefern, und natürlich grundsätzlich mit deutschem Kunstverständnis. Musical-Produzenten werden Prämissen wie die von Egon Günther wohl nie begreifen. Sie versuchen das genaue Gegenteil, sie machen Theater für Millionen. Es ist das Wesen dieser Stükke, jedem gefallen zu wollen. Das macht sie oft seicht und schwach, glatt, trivial und geputzt bis zur Unkenntlichkeit. Aber manchmal passieren Wunder, dann entsteht ein Musical, das lieben Millionen, und es ist trotzdem großartig. Die "West Side Story" gehört dazu, "Cabaret" und "My Fair Lady". Auch "Cats" hat sich nicht in ein schlechtes Stück verwandelt, nur weil es noch immer in dieser rabiaten Endlosschleife kreiselt. Die großen Musicals der letzten Jahre heißen "Tanz der Vampire" von Roman Polanski in Wien und "Lion King", die Broadway-Sensation von Disney.Das ist die Klasse, in die sich "Der Glöckner von Notre Dame" einkaufen wollte mit seinem Ehrgeiz, das teuerste Stück der Welt zu sein. Es ist die Klasse, in die das Stück es nicht geschafft hat. Weder eröffnet es eine "neue Dimension von Theater", noch ist die "Bühne des nächsten Jahrtausends" kreiert worden beides aber wäre es nach dem Willen der Hersteller gewesen.Bewegliche BödenNatürlich hat das Stück einen enormen Schauwert. Die Geschichte von dem buckligen Glöckner und der von ihm angebeteten Zigeunerin Esmeralda wird auf einer ungewöhnlichen, in ihrer Konstruktion neuartigen Bühne erzählt. Sie besteht aus neun großen setzkastenartigen Fächern zu ihren beiden Seiten, die mal als Mönchskammern, mal als Häuserfluchten dienen. Den Boden bilden bewegliche ausfahrbare Würfel, die sich zu Treppen, Schrägen und Türmen formen lassen. Den Rest besorgen Projektionen. Sie malen präzise den Marktplatz, den Glockenturm, das Zigeunergewölbe, sie erzeugen strömendes Wasser, ziehende Wolken, eine famose Innenansicht der gotischen Kathedrale und imaginieren imposant den Sturz des Richters Frollo vom Glockenturm.Bewegliche Böden und ausgeklügelte Projektionen sind nichts Neues. Sie wurden lange vor amerikanischen Musicals in europäischen Opernhäusern entwickelt. Neu ist vielleicht die Ausschließlichkeit, mit der diese Mittel angewandt werden, der Verzicht auf Ergänzungen. Doch der Effekt nutzt sich schnell ab; er braucht immer neue Impulse. Der High-Tech-Aufwand dieser Inszenierung muß große Teile der 45 Millionen Mark verschlungen haben, welche die Produzenten Stella (trägt die Kosten) und Disney (macht die Kunst) in dem Stück gut versteckt haben. Ob diese alleinige Ausrichtung auf das Licht-Bild nützlich war, ist indes fraglich. Jeder Disney-Kreative betet die Schaffung von Emotionalität als sein erstes Anliegen her, diese Bühne aber behindert Gefühle eher als sie zu befördern.Regisseur James Lapine hat eine klassische Schauspielregie geleistet, mit bemerkenswerter handwerklicher Sorgfalt. Er hat die grausame Geschichte nicht als buntes Spektakel für alle betrachtet wie Disney in seiner Zeichentrickfilm-Vorlage ("Spaß und Unterhaltung für die ganze Familie!"), sondern den "Glöckner" als Theaterstück behandelt, ihm ein gutes Tempo gegeben und einige fabelhafte Szenen abgerungen. Die schönsten spielen auf dem Glockenturm, wo unvermittelt drei steinerne Wasserspeier zu leben beginnen wie die Kandelaber in "Die Schöne und das Biest". Es sind Steine, die der zu ewiger Einsamkeit verurteilte Glöckner hier zu seinen Freunden gemacht hat, Steine, die ihn das Leben lehren, den Ungehorsam und den Flirt mit Esmeralda. Es sind Steine, die Charme, Geist und Witz in dem Stück ausmachen, mitunter sogar Rührung.Alan Menken, der Komponist, steuert geizig wie Lloyd-Webber nur anderthalb tragfähige melodische Einfälle bei und verfällt mehrfach in Operettenseligkeit. Er kann sich bei der Regie bedanken, den Filmsongs die unkonzentrierte Hast genommen und musikalische Stimmungen geschaffen zu haben. Dabei aber vernachlässigt James Lapine die einfachsten Show-Elemente, die ein Musical erst leben lassen, nämlich Tanz, Rhythmus und Bewegung. Es stellt sich eigentlich erst gegen Schluß im Keller der Zigeuner heraus, was für hervorragende Tänzer auf der Bühne versammelt sind.Reduktion lenkt die Aufmerksamkeit auf den Plot. Victor Hugos Roman ist von Disney gottlos eingeebnet worden. Bei Hugo ist es der Erzdechant von Notre Dame, ein strenger Mönch, der sich in die Zigeunerin Esmeralda verliebt, seinen Nebenbuhler umbringt und die nicht willfährige Esmeralda schließlich in den Tod schickt. Ein schlechtes Bild von einem Kirchendiener. Daß der Familienkonzern Disney Ärger mit dem Klerus meidet und die geistliche durch eine weltliche Macht ersetzt, durch den Richter Frollo nämlich, das mag noch angehen. Aber wieso erfindet Disney die Geschichte neu? Esmeralda wird zwar immer noch gejagt, doch aus einem schwachen Motiv: Sie hat Quasimodo vom Marterpfahl auf dem Narrenfest losgebunden und sich damit dem Richter widersetzt. Deswegen muß Paris brennen?Ausgestoßen, liebenswürdigWenigstens hat Disney diesmal davon abgesehen, ein Happy-End durchzusetzen wie im Zeichentrickfilm ("Die Trostlosigkeit Hugos lassen wir nicht zu"). Esmeralda stirbt, und sie ist noch immer ein schöner Anblick. Das ist das wirklich Unerforschliche dieses Abends, daß über die unterkühlte und leidenschaftslose Darstellerin der Esmeralda nichts gesagt werden kann, als daß sie ein schöner Anblick ist, wo sonst in diesem Singspiel nur die extreme Perfektion angestrebt wurde.Die Übersetzung von Michael Kunze ist feinfühlig, das Ensemble großartig, Norbert Lamla und Jens Janke singen exzellent, und mit Drew Sarich als Quasimodo steht ein Ausnahmetalent auf der Bühne. Er ist einer, der mit derselben äffischen Kraft und Behendigkeit über die Bühne turnt, die man einst bei Anthony Quinn als Quasimodo bewunderte; einer, der Angst und Qual aller Ausgestoßenen in seine Laute legen konnte, und der dabei eigensinnige Liebenswürdigkeit ausstrahlte. Das freilich ging nur, weil der Glöckner vom Potsdamer Platz so angenehm unhäßlich ist. Das Stück soll schließlich Millionen gefallen.