Das spektakuläre Berlin-Debüt der Galerie Buchholz: der schwule Grafiker Marcus Behmer: Männersex bei jedem Zucker

Wer Daniel Buchholz kennt, der wusste, dass er sich zur Eröffnung seiner Berliner Dependance etwas Besonderes einfallen lassen würde. Doch zeigt er - mit seiner Galerie samt Antiquariat das Herz der Kölner Kunstszene - nicht seine Stars, etwa Wolfgang Tillmans, Tomma Abts, Isa Genzken oder Henrik Olesen. Stattdessen überwältigt er mit der opulenten Schau über einen der bedeutendsten Künstler der Weimarer Republik. Der Buchgestalter und Illustrator Marcus Behmer (1879 bis 1958) ist Buchholz' Privatpassion. In nur wenigen Jahren hat der Galerist die wohl bedeutendste Sammlung des Werks zusammengetragen. Es ist eine museale Ausstellung, mit der er das Publikum jetzt beschenkt.In seiner Zeit einer der herausragenden Grafiker Deutschlands, ist Behmer heute meist nur noch bibliophilen Kennern ein Begriff. Es gibt einige kleine Artikel über ihn, eine Monografie aber fehlt ebenso wie ein Werkkatalog, der neben der Grafik und den Buchprojekten gleichberechtigt auch die freien Zeichnungen behandeln müsste. Behmer war eine schillernde, vielschichtige Persönlichkeit: umfassend gebildeter Humanist, lebensfroher Bohemien, bekennender Homosexueller. Für die Gestaltung schwuler Bildwelten war er einer der wichtigsten Vorreiter, in der Intensität und Vielfalt der homoerotischen Themen nur mit wesentlich jüngeren Künstlern wie Andy Warhol, Francis Bacon, David Hockney oder Robert Mapplethorpe vergleichbar.Faszinierend modernBehmers Arbeiten sind von faszinierender Modernität. Angeregt von phallischen Bildträumen Aubrey Beardsley, begann er um die Jahrhundertwende mit skurrilen Monsterwesen und tierisch-menschlichen Phantastereien. Voller ungebändigter Lebenslust stürzte er sich auf orgiastische Themen. Die Verurteilung des englischen Dichters Oscar Wilde wegen seiner Liebe zu einem Mann machte den jungen Mann zu einem politisch bewusst agierenden Menschen. So war er der einzige Künstler, der die erste schwule Befreiungsorganisation der Welt, gegründet 1897 durch Magnus Hirschfeld, mit seinem vollen Namen unterstützte.Im Jahr 1900 ging Behmer nach Paris, wo er noch Oscar Wilde und dessen Entourage traf. In Berlin bewegte er sich danach im Umfeld des George-Kreises. Doch argwöhnisch beäugten die hörigen Jünger des Meisters seine freie Einstellung zur Sexualität, und Behmer verarbeitete seine kritische Sicht auf die George-Clique. Seiner großen Liebe Luigi Cotino folgte Behmer nach Florenz. Die dort entstandenen Werke signierte er mit dem aus beiden Namen gebildeten Pseudonym "Marcotino" - auch dies ein selbstbewusstes Zeichen seiner Lebensweise. Zurück in Deutschland, entstanden vor allem Buchprojekte. Als akribischer Perfektionist kümmerte sich Behmer um alles, vom Entwurf der Schrifttype über die Illustrationen, den Einband bis hin zum Vorsatzpapier, das nach seinen Scherenschnitten gedruckt wurde. So entstanden Gesamtkunstwerke, Vorbilder für ganze Generationen von Buchgestaltern.Der Auftrag des Kunstförderers Harry Graf Kessler, für seine Cranach-Presse das "Satyricon", die erotische Satire des Römers Petronius, zu illustrieren, brachte Behmer 1927 zurück zu seiner eigentlichen Berufung: die schwule Lebens- und Liebeswelt in Antike und Gegenwart. Daraus entstand auch die Zeichnungs-Serie "Schloss Marzipan", eine exotische Welt voller Fabelwesen, die in phantastischen Situationen alle nur erdenklichen sexuellen Verwicklungen durchleben. Die Vorzeichnung zur "Fischorgie" ist jetzt ein besonderes Schaustück bei Buchholz.Das "Satyricon" beschäftigte Behmer über fünf Jahre. Es führte ihn nicht nur an die Mittelmeerstrände, sondern auch zur Berliner FKK-Szene im Freibad Südende, wo er seine Aktmodelle fand. Doch als Graf Kessler, der seine Homosexualität nicht gerne öffentlich zur Schau stellte, bemerkte, welche Flut von orgiastischen Bildern er mit dem Buchauftrag ausgelöst hatte, suchte er möglichst unverfängliche Szenen aus. Am Ende scheiterte das Projekt aus Geldmangel. Doch Behmer beschäftigte sich noch intensiver mit dem antiken Klassiker und veröffentlichte 1931 in Florenz seine an antiken Spiegelbilder angelehnten "Divertimenti" (Vergnügungen) als Mappe mit sechs Drucken, in einer Auflage von nur acht Exemplaren. Diese Rarität ist heute eine Inkunabel schwuler Kunst; in der Ausstellung sind die Blätter aus dem Besitz des Schwulen Museums zu sehen.Immer AvantgardeNach 1933 blieb Behmer sich treu, auch wenn er seine männer-erotischen Werke nicht mehr veröffentlichen konnte. Auf die zunehmende Verfolgung der Homosexuellen reagierte er mit geheimen Phantasien. So entwarf er in einem Schulheft gewagte Alltagsgegenstände, selbst Milchkännchen und Teesieb wurden hier zu sexuellen Objekten, und bei einer Zuckerzange vollführen zwei Männer bei jedem Zugreifen den Geschlechtsakt. Ende 1936 geriet auch Behmer in die Fänge der Gestapo und wurde wegen einer Liebesgeschichte zu einem Mann zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Vergleichbar mit Oscar Wildes Gefängnis-Ballade, schuf Behmer in dieser Zeit ein Tagebuch und unzählige Zeichnungen, die von seiner gequälten homosexuellen Seele Zeugnis ablegen. Es ist ein neuerlicher, bis heute kaum beachteter Höhepunkt in seinem Schaffen.Nach 1945 aber war Behmers künstlerischer Elan gebrochen. Nun schrieb er Erinnerungen an zentrale Begegnungen auf, sortierte seine Arbeiten, transkribierte sein Gefängnistagebuch und genoss weiterhin das Leben an der Seite junger Männer. Oft schenkte er ihnen alte Arbeiten - meist nachts nach dem Liebesakt, etwa um 2 Uhr 47, wie die Widmung auf einem Blatt in der Ausstellung vermerkt. Auch in solcher Verbindung von Bild und Text war Marcus Behmer Avantgarde.Unser Autor Andreas Sternweiler ist Mitbegründer des Schwulen Museums Berlin, er besitzt eine der bedeutendsten Sammlungen zur homosexuellen Kulturgeschichte, darunter zahlreiche Werke von Markus Behmer. Mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder bemüht sich das Schwule Museum derzeit, Sternweilers Kollektion anzukaufen.------------------------------Foto: (2) Zwei der phantastischen Blätter (oben und links) des Buchgestalters und Illustrators Marcus Behmer (1879 bis 1958).Bei seinem Galerienantritt in Berlin zeigt der Kölner Kunsthändler Daniel Buchholz eine große Auswahl des Gesamtwerkes von Marcus Behmer in der Fasanenstraße 30, Charlottenburg, bis 2. September, Di-Fr 11-18, Sa 11-16 Uhr.