Das, was heute als Heilkunde der Äbtissin Hildegard verkauft wird, hat nur noch wenig mit der großen Prophetin des Hochmittelalters zu tun: "Wie könnt ihr Heilmittel geben, ohne eure Tugend dazu zu tun?"
Eine Äbtissin aus dem zwölften Jahrhundert macht seit geraumer Zeit eine himmelstürmende Karriere: Hildegard von Bingen, deren 900. Geburtstag zur Zeit am Rhein groß gefeiert wird. Die Mehrzahl ihrer heutigen Verehrer und Verehrerinnen kennt sie als göttlich inspirierte Naturheilkundlerin.Gesundheitsläden bieten Gewürze aus "Hildegards Hausapotheke" an: Die gemahlene, pfeffrige Galgant-Wurzel zum Beispiel im Fünfzig-Gramm-Päckchen für 4,50 Mark und natürlich auch den Dinkel in allen Zubereitungsformen, von Flokken bis zum Keks. Wer dieses Getreide esse, so Hildegard, "bildet gutes Fleisch, Dinkel führt zu einem rechten Blut, gibt ein aufgelockertes Gemüt und die Gabe des Frohsinnes".Auf der Suche nach einer sanften Medizin erscheint die Heilige vielen als Retterin. Ihre "Kochrezepte", Arzneirezepturen und heilenden Steine haben Hochkonjunktur. Und daß "Heilfasten mit Hildegard" zu ihren Lebzeiten völlig unbekannt war, stört niemanden, der einen solchen Kurs bucht.Den Hildegard-Boom beurteilt die Theologin Hanna-Barbara Gerl-Falkowitz von der Universität Dresden äußerst kritisch: "Hildegard wird mit Tinkturen verkleinert und esoterisch verbilligt; sie ist groß und zielt auf das Großgedachte." Die Heilige liefere eine "in sich schlüssige Krankheitslehre", urteilt der emeritierte Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges, einer der ausgewiesensten Hildegardkenner und -übersetzer. Dabei bleibe sie jedoch ganz "in den Grenzen ihrer Zeit".Aus einer fremden WeltHildegards Denken entwickelte sich in einer uns sehr fremden und fernen Welt, dem Hochmittelalter, in dem der christliche Glaube noch alle einigte. Ihre heilkundlichen Schriften sind geprägt von uralten Vorstellungen, etwa der Idee, daß Gleiches mit Gleichem zu heilen sei. Manche ihrer Rezepte hielten naturwissenschaftlicher Überprüfung stand, andere nicht. Dem "Mythos Hildegard" kann dies nichts anhaben.Das adlige Mädchen wurde von ihrem 8. Lebensjahr an für ein Leben im Kloster erzogen und legte mit 16 das ewige Gelübde ab. Als Benediktinerin lebte sie zunächst in einem Kloster auf dem Disibodenberg am Zusammenfluß von Nahe und Glan. Später gründete sie ein eigenes Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen. Vom 48. Lebensjahr an durfte die Äbtissin Hildegard öffentlich und mit päpstlichem Segen lehren. In ihrem langen Leben sie wurde 81 Jahre alt verfaßte sie drei große theologische Schriften (siehe Zeittafel). In beeindruckenden Bildern, die sie in Visionen schaute, erklärt die Ordensfrau Glaubensgrundsätze, läßt sie Laster und Tugenden miteinander streiten. In ihrer Mystik blieb Hildegard von Bingen die große Rationale. Sie suchte nicht die persönliche Erleuchtung, ihr Thema waren die ganze Welt und Geschichte, die Wunder Gottes im Kosmos und im Menschen. Auch im medizinisch-naturkundlichen Teil ihres Werkes geht es deshalb immer um das ganze Heil.Der große MedicusErst mit dem Sündenfall, der die Ordnung im Kosmos störte, kam die Krankheit in die Welt. Christus, der Erlöser, war für Hildegard der eigentliche Arzt, der "große Medicus".Auf der anderen Seite wirkt in der Natur und der Seele des Menschen die göttliche "Grünkraft", die viriditas, die alles wachsen und gedeihen läßt. Diese Kraft offenbart sich gerade im Grün der frischen und jungen Kräuter, von denen sie etwa 300 kennt.Originell und mit einem klaren forschenden Blick stellte die Heilkundige Rezepte der Kloster- und Volksmedizin zusammen und verwertete dabei auch Erfahrungen aus dem Hospiz ihres Klosters. Neben den Kräutern erfaßte sie systematisch rund 200 Bäume und Tiere, das Wasser verschiedener Flüsse und die Metalle in ihrer Heilwirkung, um Krankheitssymptome, etwa Kopfschmerzen, sinnvoll behandeln zu können.Als besonders heilkräftig gelten Hildegard Edelsteine, weil Gott sie als eine Erinnerung an das Paradies "in aller Ehrenhaftigkeit und Segenskraft" erhalten habe, weshalb der Teufel sie zutiefst hasse. Der Smaragad etwa, der aus der Grünkraft der Luft entsteht, soll, so Hildegard, vor Seitenstechen, Herzbeschwerden und Magenleiden schützen. In schweren Fällen etwa bei Epilepsie legt der Kranke ihn in den Mund, damit die Heilkräfte über den Speichel besser in den Körper eindringen."Gleiches heilt Gleiches" ist ein weiteres uraltes Prinzip der Erfahrungsmedizin. So sollten in der Sonne getrocknete und pulverisierte Reiheraugen die Sehkraft wiederherstellen und gelbe Heilmittel ein Trank aus der lederfarbenen Aloe und das Auflegen eines gelben Vogels etwa die Gelbsucht vertreiben. Auch die Form begründete die medizinische Wirksamkeit: Bei Seitenstechen empfahl Hildegard die stachelige Mariendistel. Diese Pflanze enthält, so ist heute nachgewiesen, leberwirksame Stoffe, die derartige Beschwerden tatsächlich lindern. In der Weidenrinde haben Chemiker inzwischen die Salicylsäure entdeckt, deren Abkömmling im Aspirin als fiebersenkendes Mittel gegeben wird. Auch die Nonne behandelte mit der Salix alba akutes Fieber.Umstrittene NaturkundeViele der "Hildegardischen Heilmittel" sind heute als Medikament jedoch sehr umstritten oder wirken sicher nicht, etwa die Schlüsselblume, die bei Wahnvorstellungen auf das Herz gebunden werden soll. Mengenangaben fehlen bei Hildegard oft völlig oder sind sehr ungenau. Häufig gibt sie nicht an, ob Stengel, Wurzel oder Blüten einer Pflanze zu verwenden sind. Die Krankheitsbegriffe bleiben vage und müssen aus dem Lateinischen und in die heutige Zeit übertragen werden. Gicht bei Hildegard ist nicht unbedingt dasselbe wie Gicht heute.Den derzeit so populären Begriff "Hildegard-Medizin" sucht man in alten Schriften vergeblich, er tauchte 1970 zum ersten Mal auf. In seinem Buch "So heilt Gott" stellte der Arzt Gottfried Hertzka (1913 1997) dieses "neue Naturheilverfahren" vor und machte sich zum "alleinigen Entdecker und Förderer der Hildegard-Medizin", wie in dem Nachwort der neuesten Auflage nachzulesen ist. Was die Nonne an medizinischem Wissen durch "eine Art himmlischen Fernsehapparates" empfangen habe, argumentiert Hertzka, sei für immer gültig, weil göttlichen Ursprungs. Das "Wunder der Hildegardmedizin" so der Titel seines zweiten Buches währt ewig.Die Äbtissin aus Bingen hat, wie sie selbst in ihrer zweiten Visionsschrift bezeugt, nur ein naturkundliches Werk geschrieben: das "Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum" (Buch von dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe). Schon der Titel verrät, daß die Äbtissin in den Jahren 1150 bis 1160 kein Medizinlehrbuch im heutigen Sinne verfaßt hat, sondern "Gottes Werk" im ganzen beschreibt. Bis heute bleibt dieses Original jedoch unauffindbar.Erst aus dem 13. Jahrhundert existieren medizinische Handschriften, die Hildegard zugeschrieben werden. Sie sind bereits zweigeteilt: in das Liber compositae medicinae (Buch der zusammengesetzten Heilmittel), das sogar nur in einer Abschrift überliefert ist und als Heilkunde bekannt wurde, und in das Liber simplicis medicinae (Buch der einfachen Heilmittel), das unter dem eher irreführenden Titel "Naturkunde" vorliegt.In den vergangenen Jahren haben Forscher die verschiedenen Handschriften verglichen und zahlreiche fremde Eingriffe nachgewiesen: Die Betrachtungen zu dem Einfluß der Mondphasen auf die Empfängnis in der "Heilkunde" ritzte Hildegard sicher nicht in ihre Wachstafeln, bevor Mönch Volmar wie üblich ihre Niederschrift auf Pergament übertrug. Und die als Lebensmittel verteufelte Erdbeere war zu Lebzeiten Hildegards in Europa noch unbekannt.Die Hildegard zugeschriebene Textgrundlage sei deshalb sehr "fragwürdig", sagt die Medizinhistorikerin Irmgard Müller aus Bochum. Eine bittere Pille für alle, die wegen der "Naturheilkunde" zu Hildegard-Fans geworden sind: Der populärste Teil ihres Werkes bleibt historisch der umstrittenste.Die Hildegard-Medizin müsse eigentlich "Hertzka-Medizin" heißen, denn mit den bekannten Texten Hildegards habe diese Medizin "Null zu tun", so Irmgard Müller. Die Hildegardmedizin sei ein "therapeutisches Konstrukt profitbewußter Marktstrategen". Gerade deshalb lohnt sich ein Blick ins Original.Vor falschen Erwartungen und Aberglauben warnte die Nonne oft. Sie fragte die Ärzte: "Wie könnt ihr Heilmittel geben, ohne eure Tugend dazu zu tun?" Sie empfiehlt die Barmherzigkeit als "überaus liebliches Heilkraut" und in allem das rechte Maß, die benediktinische discretio ob beim Schlafen oder Essen, Beten oder Arbeiten. Hildegard erkannte, daß der Mensch Kräfte freisetzt, die eine Heilung fördern oder behindern und daß Leib und Seele stark aufeinander wirken. "Pflege das Leben bis zum äußersten", verlangte sie von jedem einzelnen.Herzwein für TouristenAber nur wenige unter den Touristen, die im Jubiläumsjahr nach Bingen reisen, suchen nach Hildegard, der Theologin. Sie bevorzugen Konkretes. Deshalb duftet auf dem Rochusberg ein neu angelegter mittelalterlicher Kräutergarten. Acht bis zehn frische Petersilienstengel muß man pflücken, um den "Herzwein der heiligen Hildegard" zu brauen, Honig, Essig und Weißwein sind seine Ingredienzien. Empfohlen wird er etwa bei Herzstechen.Selbst ein "Heil-Mittel" zu fertigen, aus billigen Zutaten und gezogen im heimischen Garten, auch das erklärt die Beliebtheit der zum sofortigen Konsum aufbereiteten Rezepte der "Modern Day Hildegard Cuisine". Diesen Kurs offeriert die Binger Tourismus-Broschüre "Experiencing Hildegard".Hildegard erleben darauf hoffen auch viele, die in die Abtei St. Hildegard pilgern. In dem offiziellen Nachfolgekloster, das auf der Bingen gegenüberliegenden Rheinseite in den Weinbergen über Rüdesheim thront, lauschen sie dann während des Stundengebetes den lateinischen Gesängen der sechzig Benediktinerinnen.Scholastica Steinle trägt den gleichen schwarzen Habit, der schon Hildegard kleidete. Die Ordensfrau, die im Festkomitee für das Jubiläumsjahr saß, nennt als ein wichtiges Ziel der Geburtstagsaktivitäten: "Es geht darum, Hildegard aus dieser diffusen Randexistenz zu befreien, die irgendwo angesiedelt ist zwischen Kräuterhexe und Wahrsagerin." Nicht blind zu glauben, sondern die Schriften Hildegards selbst lesen, rät Schwester Scholastica, und sie fügt hinzu: "Man muß sich darauf besinnen, daß sie zuallererst Benediktinerin war."In der großen Mainzer Ausstellung zum 900. Geburtstag der Heiligen begegnet man der "Hildegard-Medizinerin" nicht. Dafür begegnet man einer starken Frau und Theologin, einer christlichen Komponistin und Schriftstellerin, die in ihrem Buch Scivias ("Wisse die Wege") schreibt: "So schaue denn, o Mensch, in dich hinein, Gott hat dir den besten Schatz gegeben, einen lebendigen Schatz, deinen Verstand."Und der wirkt, richtig angewandt, auch heute noch Wunder.Ausstellung: "Hildegard von Bingen 1098 bis 1179 Leben und Wirken", Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz, Domstraße 3, 55116 Mainz (noch bis zum 16. August 1998). Katalog 38 Mark. Buchtip: Kerner, Charlotte: Alle Schönheit des Himmels Die Lebensgeschichte der Hildegard von Bingen, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1998, 32 Mark (geb.), 19,80 Mark (broschiert).