DDR-Volksaufstand am 17. Juni 1953: 60 Jahre nach dem Ausnahmezustand
Die Prachtbauten der alten Stalinallee leuchten in der Junisonne wie frisch erbaut, davor steht Klaus Gronau und erstarrt. Er ist eben längst Profi darin, für Pressefotografen zu posieren. Offiziell ist Gronau seit elf Jahren in Rente. Aber seine wahre Berufung hat er erst danach gefunden. Früher war er Lagerarbeiter, Lebensmittelhändler und Schaffner. Aber heute verkörpert er ein historisches Ereignis, das immer wichtiger zu werden scheint, je länger es her ist: Klaus Gronau ist inzwischen der 17. Juni 1953. Das Gesicht. Die Personifizierung.
Freitag ist er Gast der Gedenkstunde im Bundestag; am Sonntag tauft er mit Wolfgang Schäuble den Platz am Bundesfinanzministerium auf „Platz des Volksaufstands von 1953“; am Montag steht er beim Festakt mit der Kanzlerin auf dem Ehrenfriedhof und tafelt danach mit dem Bundespräsidenten. Seit Klaus Gronau damals in das blutige Geschehen geriet, das sein Leben ändern sollte, lässt ihn die Revolte gegen das SED-Regime nicht mehr los. Und weil das große Datum am Montag seinen 60. Geburtstag feiert, und es nach 60 Jahren ja nicht mehr so viele mit guten Erinnerungen gibt, ist Klaus Gronau, inzwischen 76, seit Wochen ausgebucht: Presse, Fernsehen, Podiumsdebatten, Gedenkfahrten mit anderen Zeitzeugen, die auch dabei waren, als die Bauarbeiter der Stalinallee den ersten Aufstand gegen die SED wagten.
Griffbereite Geschichten
Gronau war damals gerade 16, ein Halbstarker, aber er riss ein paar Propaganda-Plakate runter und sah den Freiheitswillen in den Augen der Arbeiter, sagt er. Zurzeit kommt alles wieder hoch, wenn er die türkischen Demonstranten sieht und wie die Polizisten sie wegknüppeln. Und natürlich wegen der vielen Erinnerungsfeiern. Er hat die Geschichten stets griffbereit, in einem weichen Berliner Singsang kann er jederzeit erzählen, wie er mittendrin war, als Zehntausende von der Stalinallee zum Haus der Ministerien zogen; wie er Jahre später nach West-Berlin floh und die Straßen seiner Kindheit nie wiedersah. Ein Leben im Schatten von 1953. Könnte man meinen.
Heute ist Klaus Gronau ein freundlicher, runder Mann mit einer großen Brille. Er sitzt im Café Sibylle auf der einstigen Stalinallee, an der Wand vergilbt die Dauerausstellung zum Arbeiteraufstand, der seinen Ursprung ja genau hier hatte. So stellen sich die, die Gronau immer wieder einladen und neben Historiker und Politologen setzen, die Erinnerung an ein Ereignis wie den 17. Juni vor: festgehalten in unbewegten Bildern, archiviert als Flugblatt und Zeugen-Protokoll. Wenn man die Staubschicht runterpustet, ist alles wieder da. Das Problem ist nur, dass es genau so eben nicht ist.
Dabei ist Klaus Gronau als Zeitzeuge noch ein Glücksfall. So oft hat er über seine beiden Tage im Getümmel des Aufstands gesprochen, so detailliert seine Erinnerung aufgeschrieben, dass er sie ohne Punkt und Komma abspult. Was gefragt wird, ist im Grunde egal. Gronau ordnet das Geschehene nicht ein, er durchlebt es noch mal in Echtzeit: Am Nachmittag des 16. Juni 1953 lockt lautes Geschepper den Berufsschüler Klaus Gronau an, der gerade auf dem Heimweg über die Stalinallee ist. Was er auf einer der Baustellen entdeckt, die seit anderthalb Jahren seinen Kiez überziehen, elektrisiert ihn. Ein Arbeiter haut mit einem Vorschlaghammer auf parkende Autos ein! Klaus folgt einer Gruppe von 40 Arbeitern, die skandieren: „Wir brauchen keine Volksarmee, wir brauchen Butter!“ Passanten schließen sich an, an der Sektorengrenze Oberbaumbrücke ist die Gruppe schon so groß, dass die Polizei flieht und die Männer ihre Wachhäuschen in die Spree werfen. Als der Zug, auf 1000 Menschen angewachsen, nach einer Runde wieder auf die Stalinallee einbiegt, ist die in voller Breite mit Demonstranten gefüllt.
„Seit Wochen lag etwas in der Luft“
„Morgen früh, 7 Uhr, Strausberger Platz! Generalstreik!“, wird immer wieder gerufen. Der Aufruf erreicht die ganze DDR, aber das erfährt Gronau erst Jahrzehnte später. Am Abend des 16. Juni kommt er erst mal aufgeregt heim – und kriegt eine Standpauke vom besorgten Vater. Wenn er das auf dem Podium erzählt, gluckst der Saal. Und auch, wenn er von Details berichtet wie vom Arbeiter, der unterwegs zum Streik noch schnell sein Frühstück aus der Stullenbüchse mampft.
Am nächsten Morgen, 170 Kilometer entfernt, will der knapp 18 Jahre alte Peter Bohley zu seiner Oberschule fahren, kann aber nicht. Die Straßenbahner in Halle/Saale streiken. Aus den Fabriken im Umland, vor allem den Chemiebuden, strömen Arbeiter nach Halle. Auch Peter hat im Westradio schon vom Protest der Berliner Stalinallee-Arbeiter gehört. „Seit Wochen lag etwas in der Luft“, sagt Bohley, heute 78. „Es herrschte Unsicherheit, was es bedeutet, dass Stalin gestorben war. Man hörte immer wieder von Menschen, die verhaftet wurden, weil sie die SED kritisiert hatten.“
Bohley ist promovierter Biochemiker, er ist der älteste von sieben Brüdern der Dissidentenfamilie – seine Schwägerin ist die „Mutter der 89er Revolution“, Bärbel Bohley. Er hat ein Buch über sein widerspenstiges Leben in der DDR geschrieben. Er spricht anders über den 17. Juni als Klaus Gronau. Der Berliner Gronau erzählt, dass viele Familien hungerten und wie er nachts von der Oberbaumbrücke in die Spree sprang, um im Westen heimlich Errol Flynn im Kino zu gucken. Bohley erzählt vom Neuen Kurs der SED, mit dem sie einige verhasste Beschlüsse zurücknahm, etwa die Preiserhöhungen – aber die Norm-Erhöhung bestehen ließ, die Arbeiter also für das gleiche Geld mehr arbeiten sollten.
Heute würde das Fass überlaufen, denkt der junge Peter am 17. Juni und läuft mit den Arbeitern zum Hallmarkt. „Da war Stimmung wie beim Volksfest“, sagt er heute. Die Arbeiter kapern die Lautsprecher der Polizei, alle haben das Gefühl: „Wir kriegen’s hin! Wir stürzen die Regierung!“ Gronau und Bohley halten darüber beide Vorträge vor Schulklassen. Beide sagen, die Schüler wüssten kaum noch etwas vom 17. Juni und lauschten staunend den Berichten von der blutigen Revolte. „Der Kern des Interesses wandelt sich im Lauf der Jahre immer etwas“, sagt Bohley. Die Jugend von 2013 fasziniert wohl am meisten, dass die Proteste sich wie ein Flächenbrand über Nacht auf die ganze DDR ausbreiteten – in einer Welt ohne Fernsehen, Handys, Internet und fast ohne Telefone. Vermutlich finden die Jugendlichen allein diese Vorstellung faszinierend: eine Welt ohne Internet. Aber Szenen, wie man sie von Fernsehbildern aus der Türkei oder Arabien kennt, in Berlin, Halle, Leipzig? Irre.
Tatsächlich schlägt der friedliche Aufstand so schnell, wie er sich ausgebreitet hat, landesweit in Gewalt um. Der junge Klaus Gronau läuft nachmittags am Berliner Alexanderplatz auf Sowjetpanzer zu, die rigoros in die Menschenmenge fahren. Am Boden erkennt er den Arbeiter vom Morgen wieder: vom Panzer zermalmt, die zerquetschte Stullenbüchse noch neben sich.
In Halle zieht der junge Peter Bohley mit Hunderten Demonstranten an der Stasi-Zentrale vorbei, als aus dem Hinterhalt Schüsse fallen. Die Demonstranten fliehen, der Junge vor Peter wird getroffen, sackt zusammen, sein gelbes Nicki färbt sich sekundenschnell blutrot.
Der Ausnahmezustand wird verhängt
In fast 700 Orten der DDR spielt sich Ähnliches ab: In den Betrieben bilden sich, durch Telefonate und Westradio alarmiert, schon morgens Streikkomitees. Tausende Arbeiter ziehen zum Rathaus, es bilden sich Massendemonstrationen, SED-Zentralen werden besetzt, Gefängnisse gestürmt. Der Ausnahmezustand wird verhängt. Es fallen Schüsse. Bis zum Abend bringt die Sowjetarmee die Lage aber überall unter ihre Kontrolle. Am Ende sind etwa 55 Menschen tot, hat das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam recherchiert, davon 34 Demonstranten und Zuschauer, sieben zum Tode Verurteilte und fünf Angehörige der Sicherheitsorgane, die von Querschlägern, bei Gefangenenbefreiungen und von einem wütenden Mob umgebracht wurden. „Mit den Toten und der Höhe ihrer Zahl wurde in der Vergangenheit Politik gemacht“, schreiben die Historiker. Die DDR habe stets zu wenige angegeben, im Westen war zuletzt von 300 Opfern die Rede.
Die SED sprach noch am selben Tag von einem faschistischen Putsch mit Hilfe von West-Agenten, die Legende wurde in Schulbüchern und sogar von Dissidenten unter den Schriftstellern verbreitet – bis selbst die Teilnehmer nicht mehr wagten, ihren eigenen Kindern davon zu erzählen. Vielleicht sind deshalb die meisten Zeitzeugen, die ihre Erinnerungen heute ausbreiten, Menschen, die irgendwann in den Westen geflohen sind.
Peter Bohley reiste 1984 nach einem Lehrverbot nach Tübingen aus. Da habe ihn stets geärgert, dass der 17. Juni zwar ein arbeitsfreier „Tag der Deutschen Einheit“ war, aber zum Badetag nebst offizieller Kranzniederlegung verkam. Klaus Gronau floh 1960 nach West-Berlin. „Danach interessierte mich die DDR nicht mehr“, sagt er. Er genoss die neue Freiheit, kaufte eine Bar in Neukölln, „mit Küche auch nachts und Travestieshow“. Damals hat er eigentlich nie vom 17. Juni erzählt. Erst 2003, er war inzwischen im CDU-Ortsverband aktiv, machte ihn die Junge Union als Zeitzeugen aus und wollte eine Veranstaltung zum Volksaufstand organisieren. Das Land war rot-grün regiert, die Stadt rot-rot, und es war der 50. Jahrestag. Drei Jahre später stand Gronau mit ein paar Jungkonservativen morgens um sechs vor dem Finanzministerium, um dagegen zu protestieren, dass der SPD-Hausherr Erinnerungsfotos von der Fassade nehmen ließ. So kam die Erinnerung wieder, Gronau zu seiner Berufung.
Im Westen war der 17. Juni vieles: erst ein „Volksaufstand für die deutsche Einheit“; als im Kalten Krieg die Westbindung vorging, eine antikommunistische Revolte; als Willy Brandt sich der DDR näherte, kam die Deutung des Publizisten Arnulf Baring recht, wonach „der Aufstand zu Unrecht als Volkserhebung gefeiert“ werde und nur ein Protest klassenbewusster Arbeiter war. Die 68er hielten ihn für deutschtümelnd, Helmut Kohl ersetzte ihn durch seinen eigenen Einheitstag.
Die platt gedrückte Stullenbüchse
So geht es nach 60 Jahren auch auf den Podien zu: Die Deutungen des 17. Juni füllen einen Ozean mit heftigen Gezeiten und hohen Wellen, aber am Ende taucht immer Klaus Gronau daraus auf und hat eine platt gedrückte Stullenbüchse im Mund. Zuletzt hat, weil fast nur noch Zeitzeugen leben, die damals Lehrlinge oder Schüler waren, Arnulf Baring bei einer Debatte gesagt, der 17. Juni war ein „Aufstand der Jugend“. Gronau saß daneben und nickte.
Erinnerung, sagen Hirnforscher, ist eben keine Sammlung gespeicherter Bilder und Töne. Wir rufen nicht etwas ab, das einmal laminiert und abgelegt wurde, sondern setzen es jedes Mal neu zusammen.
Der Zeitzeuge Gronau fürchtet, sein großer Tag könne nach dem 60. Jubiläum wieder vergessen werden. Deshalb bietet er sich weiter den Schulen an, auch für Medien steht er bereit, selbst wenn es anstrengend ist. Immerhin hat er erreicht, dass der Platz, von dem alles ausging, den Gedenknamen bekommt. Und der Kampf geht weiter: „In den meisten Jahreskalendern ist der 17. Juni nicht mehr als Gedenktag vermerkt!“ Das muss sich ändern.
Eine Einladung hat Gronau aber doch ausgeschlagen. Man habe ihm, erzählt er, einen Platz auf dem Friedhof angeboten, wo das Mahnmal für den Aufstand steht. „Wenn es mal soweit ist, will ich bei meiner Frau liegen“, sagt Gronau. „Noch lebe ich ja.“