Dem Theaterkritiker Martin Linzer zum 70. Geburtstag: Gefüllte Phrasen und gebildete Meinungen
Man kommt in Schwierigkeiten, wenn man etwas feststellt, was schon tausend Mal als Floskel formuliert wurde. Im folgenden Fall gibt es inzwischen schon Floskeln über die Floskelhaftigkeit dieser Floskel. Lesen Sie also folgenden Satz als nackten Fakt: Der Jubilar sieht deutlich jünger aus, als er ist. Und das liegt nicht nur am Basecap. Martin Linzer wird heute siebzig Jahre alt. Auf die Frage, wie lange er als Theaterkritiker arbeitet, antwortet er kurz etwas dem Inhalt nach sehr Langes: "Schon immer." Wenn man es genau nimmt, stimmt das nicht ganz - aber fast. Martin Linzer studierte von 1950 bis 1954 Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität, in einer Semestergruppe mit Kurt Böwe und Rudolf Münz. Die Leute von "Theater der Zeit", bei denen er 1953 ein Praktikum absolvierte, ließen ihn nicht wieder gehen. So wurden aus drei Wochen 48 Jahre. Vor zwei Jahren hat er sich zwar als Herausgeber aus dem Impressum radieren lassen, blieb dem Theater-Fachblatt aber als Mitglied des Beirates und vor allem als Autor erhalten. Im Septemberheft sind drei Artikel und ein Interview von ihm zu lesen. Linzers Kritiken sind ein Schatz. In ihnen stecken scharfe Analysen, einleuchtende Beschreibungen, überzeugende Interpretationen und gebildete Meinungen. Angebote für Kritikseminare schlug er aus, ein Rezept hätte er nicht. Man spürt, wie wichtig ihm der Gegenstand ist, hört seine positive, motivierende Stimme. Vielleicht ist bei Linzer die integere Haltung das Schreibrezept. Er schreibt "erst mal mit der Hand. Das war immer so, und das mach ich auch heute noch. Ich konnte Technik zwischen mir und dem Gedanken nie leiden." So kann man heute lesen, was Linzer gedacht hat. Vor allem kann man lesen, dass Linzer gedacht hat. Wer in der DDR für die Öffentlichkeit schrieb, hatte auch so genug zwischen sich und seinen Gedanken: z.B. die dringenden Empfehlungen der besorgten Zensoren, Glücksvorschreiber und Verantwortungsabnehmer. Linzer verwendete zuweilen "Sklavensprache". Das sind jene Stellen in den DDR-Zeitungen, die, ohne dass es jemand gemerkt hätte, mit "blablabla" zu Gehör gebracht werden konnten. Linzer füllte die Hülsen. "Von Freunden lernen" hieß überraschenderweise für ihn tatsächlich von Freunden lernen. Er berichtete aus Polen, Bulgarien und der Sowjetunion. Und wenn er den Lesern nahe bringen wollte, dass er modernes Theater gesehen hatte, benutzte er den Begriff "Neuerer". Heikle Theaterereignisse beschutzmäntelte Linzer mit Wendungen wie "im Sinne der Beschlüsse des Parteitages" oder "für das Ansehen der DDR in der Welt". Neben der Fähigkeit, Gedanken, die als öffentlich denkbar nicht eingestuft worden wären, zwischen die Zeilen zu schreiben, kam die des kunstvollen Verpackens von eigenständigem Geist in die Pappkartons der Aparatschiksprache. Eine andere Taktik nennt Linzer "Weißer Elefant". So hieß die Nummer im Kabarett, die man für die Zensur schrieb, eine etwas offensichtlichere Frechheit, die das Augenmerk von versteckter formulierten Staatsunpässlichkeiten abzog.Man kann das Opportunismus nennen, und Linzer, das Wort gegen den Strich bürstend, nennt sich im Titel seines Interview-Buches Opportunist. Man bekommt ihn nicht dazu, Heldenlieder zu singen. Seine Nicht-Zugehörigkeit zur SED beschreibt er als Vorteil, da man ihn nicht bei der Parteidisziplin zu fassen kriegte. "Die Opportunitäten ausschöpfen" war seine Art, in Zeiten, die von Kritik in Ruhe gelassen werden wollen, Kritik zu üben - und dabei in Ruhe gelassen zu werden. Tatsächlich sah sich Linzer im Auftrag für eine Sache: Er wollte zusammen mit den Bühnenmenschen herauskriegen, was gutes Theater ist. Sein Wir-Gestus ist kein realsozialistisches Phrasenmodul, das sich jeder Kreissekretär anzueignen wusste. Linzers Wir schmiedete er sich in seinen vier Jahren Praxis: er kam 1963 ans DT als Dramaturg. Der Ausflug erwies sich zwar nicht als Erfüllung, gewährte ihm aber Kontakt zur anderen Seite. Linzer nennt das seine "praktische Lehre". Er bescheidete sich mit der Erkenntnis, dass er kein guter Dramaturg, aber ein akzeptabler Kritiker werden könne und verließ das "beste, tollste Theater in Berlin und in der DDR". Er hatte die beste Zeit dieses besten Theaters erwischt. Wolfgang Langhoff war noch nicht richtig weg, Wolfgang Heinz und Benno Besson waren da, 1964 kamen Adolf Dresen und Friedo Solter dazu. "So eine Traummannschaft hat es nicht wieder gegeben." Wer wäre nicht gern Mitglied eines solchen Wirs? "Abends kam Biermann rein, spielte Gitarre in der Kantine. Wenn die Kantine zumachte, gingen wir in die Möwe. Wenn die Möwe zumachte, gingen wir in den Esterhazy-Keller." Eine solche Prozession durch die Stadt vor dem geistigen Auge spürt der Spätgeborene nicht die floskelhafte Gnade, sondern puren Neid."Ich war immer Opportunist..." 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, aufgezeichnet von Nikolaus Merck, ca. 280 Seiten, 20 Mark.Buchpremiere am 10. September, 20 Uhr im Brechthaus, Chausseestr. 125THEATER DER ZEIT Martin Linzer schreibt seit 48 Jahren Theaterkritiken und hat gute Laune.