Der Althistoriker Christian Meier wird 80 Jahre: Vor den Griechen gab es keine Griechen
Er wundert sich noch immer über seine Griechen. Letztlich, sagt er, sei es doch unbegreiflich, wie all das, was sie damals im sechsten und fünften Jahrhundert v. Chr. erkühnt, erfahren und erlitten haben, schließlich zu klassischer Ausformung gelangte. Vieles bleibe da Geheimnis, wenn nicht Wunder. Denn überall lasse sich eine "Kulturbildung um der Freiheit willen" beobachten; und das, so Christian Meier, sei etwas gänzlich Neues in der Weltgeschichte: "Die Griechen hatten keine Griechen vor sich."Für Christian Meier stellt sich daher die Frage, wie diese "höchst ausnahmeartige, so ungemein starke und breit nachwirkende Kultur" zustande gekommen ist. Das ist Meiers Lebensthema. Früh schon, mit seiner 1980 erschienenen Studie "Die Entstehung des Politischen bei den Griechen" hat es ihn umgetrieben; acht Jahre später, als seine maßgebliche Abhandlung"Die politische Kunst der Tragödie" erschien und mehr noch 1993, als er sein großes "Athen"-Buch herausbrachte, hat er in immer neuen Anläufen nachgeforscht, wie es zu diesem "eigentümlich Griechischen", dem "Sonderweg Athen" kommen konnte. Stets erschienen ihm die Griechen dabei als "Menschen, die im höchsten Sinne Menschen sind", immer sprach er von einem "griechischen Menschenschlag" als Geburtsstunde Europas. "Der europäische Geist hat in Griechenland seine Jugend zugebracht", notierte Hegel. Christian Meier hat diesen Satz mit jedem seiner Bücher zur griechischen Antike bestätigt.Jetzt hat er sich abermals aufgemacht, die Entstehung dieser Einzigartigkeit zu erfassen. "Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge - Anfang Europas?" (Siedler, München 2009, 368 S., 22,95 Euro) heißt sein jüngstes Werk, das den Auftakt zu einer siebenbändigen Geschichte "Die alte Welt" bildet. Es erscheint just zu seinem heutigen 80. Geburtstag; und es ist durchaus die Summe, das Vermächtnis seines Forscherlebens.Christian Meier wurde im pommerschen Stolp geboren, gelangte über Stationen in Heidelberg und Basel auf den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Münchner Universität, war bis 2002 für sechs Jahre Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und hat sich immer in aktuelle politische Debatten eingemischt. "Von Athen bis Auschwitz" heißt einer seiner Essaybände zur "Lage der Geschichte", mit dem er wissen will, "woran wir sind" und woran es heute mangelt; und noch sein jetziges Buch enthält den Zusatz, dass es nur in der alten Rechtschreibung zitiert werden darf. Es gibt kaum einen Historiker, der derart weit über seine Fachgrenzen hinaus als intellektuelle Instanz anerkannt ist.Das liegt auch an Meiers Kunst, sein immenses Fachwissen gänzlich uneitel als Erzählung für eine breitere Leserschaft auszubreiten. Der Geschichtsschreiber, hat Wilhelm von Humboldt einst dekretiert, habe jede Begebenheit als Teil eines Ganzen darzustellen. Das war das Motto von Meiers Vorbild Jacob Burckhardt, und das ist stets der Anspruch von Meiers Monographien. Im Nachwort zum "Athen"-Buch schreibt er, er habe zweierlei gewollt: zum einen, ein anschauliches Bild von Athen und seiner Geschichte zu geben, zum anderen ein "historiographisches Experiment" zu unternehmen, nämlich "in der Praxis, an einem konkreten Beispiel zu versuchen, wie man heute in Deutschland überhaupt Geschichte schreiben kann".Seine Antwort ist eine Geschichtsschreibung als Erzählkunst, die mit dem Einzelfall das Ganze einer Entwicklung erfasst, aber auf Bildungshuberei genauso verzichtet wie auf den Terror des Überzeugenwollens. So ist seine "Caesar"-Biographie auch eine Geschichte der römischen Republik und seine Habilitationsschrift "Res publica amissa" auch eine Fallstudie zu einer gesellschaftlichen Ordnung, deren Niedergang alternativlos war - "aufs Ganze gesehen" ist eine von Meiers Lieblingswendungen und trifft den Kern seines Schreibens und Denkens. Das macht seine Bücher so lesenswert, zumal zum Ganzen für Meier auch Mentalitätsgeschichte, Dichtung und Philosophie gehören. Die Geschichte ist für ihn nicht abgeschlossen, er findet in ihr immer wieder Anlässe zum forschenden Staunen. Sehr zum Glück für uns Leser.------------------------------Foto: "Aufs Ganze gesehen" ist eine Lieblingswendung Christian Meiers.