Der australische Arzt Barry Marshall über die Motive für seinen berühmten Selbstversuch mit dem Erreger von Magengeschwüren: "Wir rüttelten an Grundfesten der Medizin"
Ein Magengeschwür ist eine Infektionskrankheit, verursacht durch das Bakterium "Helicobacter pylori". Diese These haben der Gastroenterologe Barry Marshall und der Pathologe Robin Warren aus Perth in West-Australien Anfang der achtziger Jahre aufgestellt. Sie war damals so revolutionär, daß sie von den meisten Fachkollegen abgelehnt wurde. Inzwischen ist sie Lehrmeinung. Den beiden Australiern ist es zu verdanken, daß Magengeschwüre heute erfolgreich mit einer Kombination aus Antibiotika und Magensäure-Hemmern behandelt werden. Nicola Siegmund-Schultze sprach mit Barry Marshall über die Entdeckung und seinen Selbstversuch, der zum wissenschaftlichen Durchbruch führte.Berliner Zeitung: Sie haben sich im Verlauf Ihrer Forschungsarbeiten zum Selbstversuch entschlossen. Was hat Sie dazu bewogen?Barry Marshall: Dr. Warren und ich meinten, nach vielen Jahren gemeinsamer Forschung den Zusammenhang zwischen einer Besiedlung des Magens mit dem Bakterium Helicobacter pylori und dem Auftreten von Magenentzündungen sowie Geschwüren des Magens und des Zwölffingerdarms auch in Studien bewiesen zu haben. Aber auf welchem internationalen Kongreß auch immer wir unsere Ergebnisse vorstellten, die Kollegen reagierten mit Skepsis. Als wir 1983 versuchten, eine Studie mit hundert Patienten in der Fachzeitschrift "Lancet" zu publizieren, fand sich kein Gutachter, der bereit gewesen wäre, sie zu beurteilen. Die Veröffentlichung konnte vorerst nicht erscheinen.Warum waren Ihre Kollegen so mißtrauisch?In gewisser Weise haben wir an den Grundfesten der Medizin gerüttelt. Die Lehrmeinung war, daß im Magen wegen der Magensäure kein Bakterium überleben kann. Das Organ galt als steril. Die ersten Berichte über Bakterien im Magen stammten aus den vierziger Jahren. Aber sie wurden als unkorrekt oder bedeutungslos abgetan. Dr. Warren hat diese frühen Befunde Ende der siebziger Jahre bestätigt und wurde deshalb, wie er später sagte, von den Kollegen belächelt. Weshalb?Hätte man damals akzeptiert, daß Bakterien im Magen überleben und eine Gastritis verursachen können, wäre es eine logische Folge gewesen, chronische Magenschmerzen mit Antibiotika zu behandeln, sofern man Bakterien nachweist. Eine solche Ursache für die Erkrankung und die daraus folgende therapeutische Konsequenz zu akzeptieren, hätte die damaligen Vorstellungen und Behandlungsmethoden über den Haufen geworden. Gastritis wurde auf falschen Lebensstil wie Streß, Alkoholkonsum und stark gewürzte Speisen zurückgeführt. Wer anhaltend Magenschmerzen hatte und ein Geschwür entwikkelte, erhielt Wismutpräparate. Wer kein Geschwür hatte, wurde zum Psychiater geschickt. Vor allem Frauen galten als anfällig gegenüber psychischen Störungen und Gastritis.Warum haben Sie sich mit dieser Außenseiter-Hypothese beschäftigt?Ich kam im Juli 1981 in Dr. Warrens Labor. Damals war ich dreißig und im zweiten Jahr meiner praktischen Tätigkeit als Arzt mit Schwerpunkt Gastroenterologie. Als Dr. Warren mir die gekrümmten, stäbchenförmigen Bakterien unter dem Mikroskop zeigte und sagte, er sehe einen Zusammenhang zu Magenentzündungen, schien mir das eher eine esoterische Kuriosität zu sein. Aber es reizte mich doch, mich mit den mysteriösen Magenbakterien zu beschäftigen und vielleicht die Lehrmeinung vom sterilen Magen widerlegen zu können.Und wie ging es weiter?Nach vielen vergeblichen Versuchen ist es uns Ostern 1982 gelungen, aus der Gewebeprobe eines magenkranken Patienten "unser" Bakterium im Labor anzuzüchten. Es bekam später den Namen Helicobacter pylori. Wir hatten ein neues Bakterium charakterisiert und fanden es bei zirka 90 Prozent der Patienten mit chronischer Gastritis. Aber noch waren die Fachkollegen nicht überzeugt.Warum haben Sie Ihren Selbstversuch allein unternommen?Ich wollte nicht darüber reden, weil die Gefahr bestand, daß mein Plan publik würde, und ich um Erlaubnis bitten müßte. Der Klinikchef hätte mir den Versuch sicher verboten. Das wollte ich nicht riskieren.Wie sah der Test aus?Im Juli 1984 ließ ich mir eine Gewebeprobe aus dem Magen entnehmen, um zu sehen, ob meine Schleimhaut schon mit Bakterien besiedelt war. Zum Glück war das nicht der Fall. An einem Julimorgen trank ich die Bakterien. Ich wusch sie von einer Kulturschale ab, löste sie in flüssigem Nährmedium auf und verdünnte die trübe Brühe, so daß ich etwa tausend Millionen Keime schluckte. Es roch scheußlich, und ich hielt mir die Nase zu.Und Sie hofften, krank zu werden.Ja. Etwa fünf Tage später bekam ich nachts Schweißausbrüche, mir war übel, ich mußte erbrechen. Die Biopsie aus meinem Magen ergab: aktive Gastritis. Die Magenschleimhaut war mit Helicobacter besiedelt.Wie lange hat die Krankheit gedauert?Etwa eine Woche. Nach insgesamt 14 Tagen war ich wiederhergestellt.Der Selbstversuch hat Ihre Kollegen schließlich überzeugt?Ja, zusammen mit unseren anderen Studienergebnissen. Dr. Warren und ich haben die Gewebsproben mit den Bakterien auf meiner zuvor keimfreien Schleimhaut dokumentiert, und der gesamte Versuch wurde publiziert.