Der Graben am Evros
Edirne/Orestiada - Der junge Iraker war wohl einfach zu aufgeregt. Anders ist es nicht zu erklären, dass er seinen Pass im Taxi vergaß. Karzan Afrasiaw Mohammed hat ein schmales Gesicht mit klugen schwarzen Augen. Er ist ein Neujahrskind, geboren am 1. Januar 1990. Vor drei Monaten ließ er sich in der osttürkischen Stadt Edirne vom Busbahnhof ins Zentrum bringen. Dann verliert sich seine Spur. Übrig blieb nur der Pass im Taxi, den der Fahrer später fand.Karzan Afrasiaw Mohammed ist einer von Tausenden aus dem Irak, Afghanistan, Somalia, für die Edirne das Tor nach Europa ist. Wenn sie es denn nach Griechenland schaffen. Oder erst einmal bis zur Grenze.
"Wir dürfen sie jedenfalls nicht mehr bis hierher fahren", sagt Cengiz Mendeli, Türke, Taxifahrer. Das Risiko sei zu groß geworden, es drohten zehn Jahre Gefängnis, und das sei es ihm nicht wert, sagt der freundliche Mann mit dem grauen Vollbart. Er stoppt auf der Schotterpiste zehn Kilometer hinter Edirne im Dorf Bosna, wo der Weg endet. Nachdenklich betrachtet Mendeli den Pass von Karzan Afrasiaw Mohammed, den er behalten hat wie ein Souvenir. "Man kann sagen, ich habe durch die Flüchtlinge gut verdient. Aber das ist nun leider Vergangenheit." Zwei Hirten treiben ihre Kühe vorbei, wirbeln Staub auf. Von hier sind es noch drei Kilometer bis nach Griechenland, bis zur Europäischen Union, geradeaus durch die Maisfelder.
Hinter den Apfelbäumen
Wer ohne gültige Papiere weiter will, muss zu Fuß über die grüne Grenze. Bosna liegt in einem Gebiet, in dem der Grenzfluss Meric, der in Griechenland Evros heißt, auf einer Länge von zwölf Kilometern nicht die Grenze markiert. Nur hier kann man nach Griechenland laufen. Von den 128?000 Menschen, die die Grenze zu Griechenland laut Behördenangaben im vergangenen Jahr illegal passierten, sind die meisten hier hinübergegangen, manchmal 400 in einer Nacht. "Da hinten durch die Apfelbäume schleichen sie, oft sind Kinder dabei", sagt der türkische Landwirt Aslan Korkmaz, ein gemütlicher Mann, der hier Milchkühe hält und Mais anbaut. "Seit die Helikopter fliegen, kommen nicht mehr so viele", sagt er.
Vor einem Jahr schickten die Bürgermeister der griechischen Gemeinden auf der anderen Seite der Grenze einen dramatischen Hilferuf nach Brüssel. Sie fühlten sich von einer Flüchtlingswelle getroffen, die stetig anschwoll. Der Menschenstrom hatte sich ein neues Ventil gesucht, weil es schwerer wurde, das Mittelmeer zu überwinden. 80 Prozent aller illegalen Einwanderer in die EU nehmen inzwischen den Weg über Griechenland. Das Land sah sich heftiger Kritik ausgesetzt. In den Aufnahmelagern entlang der Grenze herrschten unwürdige Verhältnisse, die sanitären Verhältnisse seien katastrophal, sagen Hilfsorganisationen wie Pro Asyl.
Die griechische Regierung erklärte, sie fühle sich dem Ansturm allein nicht mehr gewachsen und machte zwei Vorschläge: die Grenze mit einem High-Tech-Zaun wie zwischen den USA und Mexiko abzuriegeln und die EU-Grenzschutztruppe Frontex zu Hilfe zu rufen. Seit November 2010 patrouillieren nun 200 Frontex-Männer mit Hubschraubern, Scheinwerfern und Wärmebildkameras am Evros. Über den Zaun wird weiter diskutiert.
Ein Wassergraben zum Schutz der Festung Europa
Wie jetzt herauskam, hatten die Griechen zuvor schon einen weiteren Plan gefasst. Einen geheimen Plan. Erst vor einem Monat enthüllten Athener Zeitungen, woran das Militär seit Dezember 2009 arbeitet: ein gigantisches Bauvorhaben, die vielleicht ultimative Flüchtlingssperre. Ein Wassergraben zum Schutz der Festung Europa, entlang der gesamten Grenze zur Türkei. Ein Projekt, das Assoziationen weckt an den Kalten Krieg, an die Berliner Mauer; nur dass hier nicht gemauert, sondern gegraben wird.
Die griechischen Zeitungen berichten wie von einer militärischen Front. 120 Kilometer lang solle der "Hochqualitätsgraben" werden, dreißig Meter breit und sieben Meter tief, von Bulgarien bis Alexandropoulis an der Ägäis. 14,5 Kilometer seien bereits fertiggestellt. Zwölf Offiziere und 452 Soldaten seien im Einsatz, 156 900 Arbeitsstunden bis jetzt abgeleistet.
Der eigentliche Zweck der Wallanlage, schreibt die Zeitung Gnomi , sei militärisch: Abwehr türkischer Panzer, "eine rein defensive Maßnahme" gegen den Erzfeind und gleichzeitigen Nato-Partner. Dabei ist die Grenzlinie hier völlig unstrittig – anders als in der Ägäis. "Schon jetzt kommen deutlich weniger Flüchtlinge über das Evros-Dreieck", stellte Gnomi fest, um dann einzuräumen: "Jetzt gehen sie an anderen Stellen über die Grenze."
Nämlich verstärkt über den breiten, gefährlichen Evros selbst. Weswegen der Graben auch parallel zum Fluss weitergebaut werden soll. Zweimal durchs Wasser, das halte Panzer so zuverlässig ab wie Menschen, so kalkuliert die griechische Armee, sagt Karl Kopp, Europareferent der Hilfsorganisation Pro Asyl in Frankfurt, der die Evros-Grenze gut kennt. "Es geht nur darum, wie man die Leute physisch am besten davon abhält, die Grenze zu überwinden." Obwohl der EU-Grundrechtefonds fast zehn Millionen Euro für die Verbesserung der Flüchtlingshilfe bewilligt habe, sei bisher offenbar kein Cent davon im Krisengebiet angekommen. "Dort werden die Menschenrechte täglich massiv verletzt. Doch statt die Not zu beheben, wird ein Wassergraben gebaut, der die Lage weiter verschärft." Dabei sei eines klar, sagt Kopp: Neue Grenzanlagen verschieben die Fluchtbewegungen nur. Davon profitierten die Schlepper, die Flüchtlinge müssten mehr bezahlen, und es gebe mehr Tote. "Das ist unsere gemeinsame Grenze. Dort sind auch deutsche Beamte im Einsatz. Alles, was dort geschieht, geschieht auch in unserem Namen", sagt Kopp. "Wie kann es sein, dass die anderen EU-Länder nichts von dem Graben wussten? Warum äußert sich Brüssel nicht dazu? Und wer bezahlt den Wahnsinn?"
Die Fremden sitzen im Café "Utopia"
Im griechischen Dorf Nea Vissa, das etwa gleich weit von der Grenze entfernt liegt wie Bosna in der Türkei, begreift man schnell, warum das Projekt so lange geheim bleiben konnte. 200 Meter hinter der Ortschaft beginnt eine militärische Sperrzone. Zwischen Mais- und Sonnenblumenfeldern stößt man auf Sandsäcke, dahinter gelangweilte griechische Soldaten, die das Grenzgebiet abschirmen. Sie rufen: "Kein Durchgang hier." Und vom Hügel am Dorfrand, bei einer wilden Müllkippe, sind zwar in der Ferne die Minarette von Edirne, aber kein Graben zu sehen. Doch irgendwo da hinten, zwischen dem Grün und Gelb und Braun der Felder, da muss er sein.
"Ja, hier wird mächtig gebuddelt", sagt Georgios Dolis, der Wirt des Café "Utopia" am Dorfplatz von Nea Vissa. "Da sieht man, wo unser Geld verschwindet – in einem Graben." Am Morgen hat er fünf Flüchtlinge in Nea Vissa gesehen. Jetzt sind sie weg. "Früher waren es immer fünfzig bis hundert Leute am Tag. Arme Teufel. Sie kommen nachts, setzen sich auf die Bank da drüben und warten, bis es hell wird. Wenn ich das Café dann aufmache, kaufen sie Wasserflaschen und fragen, wie weit es bis Athen ist. Sie denken, das ist ganz in der Nähe." Athen ist tausend Kilometer entfernt.
Die Fremden sitzen dann also an diesem Dorfplatz in Europa, gegenüber einem Café, das "Utopia" heißt, unweit einer Tankstelle, an der "Welcome" steht. Es ist das erste Bild, das sie vom Westen haben.
Georgios Dolis hat nichts gegen die Migranten, anders als viele seiner Mitbürger. Da ist zum Beispiel der 68-jährige ehemalige Landwirt Georgios Tsoknidis. Der Alte meint, er könne zwar nichts Schlechtes sagen über die Fremden, aber geheuer seien sie ihm auch nicht. "Es wurden schon Autos gestohlen. Man fühlt sich unsicher." Er freut sich über den Bau des Grenzgrabens. "Das hilft gegen beide – die Flüchtlinge und die Türken. Von den Türken haben wir nichts Gutes zu erwarten. Das ist eine Tatsache."
Offiziell dementiert Frontex Kenntnis von den Bauarbeiten zu haben
Ähnlich sieht die Dinge Evangelos Maraslis, der Vizebürgermeister von Orestiada, der nahen Provinzhauptstadt, die 1923 aus dem Boden gestampft und streng nach Schachbrettmuster angelegt wurde. "Wir müssen wachsam sein", sagt Maraslis, ein kompakt gebauter, resoluter Mann. Die Flüchtlinge seien das aktuelle Problem, die Türken das existenzielle. Der Vizebürgermeister ist auch für Nea Vissa zuständig, er kennt den Baufortschritt am Grenzgraben. "Sie arbeiten hart daran. Das Militär glaubt, es bringt etwas." Und wenn die Türken nicht mit Panzern, sondern mit Kampfjets kommen? Evangelos Maraslis zuckt mit den Schultern. Dank Frontex habe sich die Zahl der Illegalen, die es bei Nea Vissa über die Grenze schaffen, ungefähr halbiert, sagt er. "Aber sie kommen natürlich trotzdem. Die Polizei nimmt sie fest und bringt sie in ein Flüchtlingslager. Dort werden sie registriert, und anschließend lässt man sie laufen."
Dann sagt er: "Ich zeige Ihnen mal was." Er zieht sein Handy aus der Hosentasche und lässt ein Video laufen. Ein Boot auf einem Fluss. Der Evros. Am Ufer sieht man eine aufgeschwemmte Leiche im Wasser treiben. "Eine von vielen. Sie sterben, weil sie zu uns wollen. Fünfzig ertranken im vergangenen Jahr. Jetzt kommen wieder viel mehr über den Fluss. Ist das human? Wollen wir das?" Evangelos Maraslis hat dazu seine eigene Meinung. "Das eigentliche Problem lässt sich nur in den Ländern selbst lösen: mit einem besseren Leben und Demokratie." Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und reibt seine kräftigen Bauernhände. "Naja, und bis dahin haben wir Frontex."
Die EU-Grenzschutzagentur unterhält in Orestiada ihr Regionalbüro, in einem kleinen Haus gegenüber dem heruntergekommenen Polizeirevier der Stadt. An diesem Tag hat dort ein junger Holländer Dienst, der erst seit Kurzem im Einsatz ist. Er hat bisher noch nicht von dem Graben gehört. Offiziell dementiert sogar das Frontex-Hauptquartier in Warschau, Kenntnis von den Bauarbeiten zu haben.
Wie viele Millionen Euros verschlingt das Bauwerk – Euros, die Griechenland nicht hat? Die Regierung in Athen hat den Grabenbau "aus Gründen der Verteidigung" inzwischen bestätigt, gibt aber keine Einzelheiten bekannt, weil es sich um ein Militärprojekt und die nationale Sicherheit handele. Und auch in Orestiada halten sich Polizei und Verwaltung mit Angaben über Details zurück. Die Kosten kenne nur das Militär, sagt der Polizeihauptmann Jorgos Petropoulos."Wir arbeiten jeden Tag neun Stunden", berichtet ein einfacher griechischer Soldat in Orestiada. "Mit uns Soldaten ist es am billigsten, wir kriegen ja ohnehin unseren Sold." Stellt man nur den Sold in Rechnung, kostet das Projekt mindestens eine halbe Million Euro im Monat, hinzu kommen die Kosten für die Entschädigung der Landeigentümer, für Baumaschinen und Treibstoff. "Die Maschinen verbrauchen so viel Diesel, dass wir im Winter nur die Hälfte unserer Panzer und Laster nutzen konnten. Wir hatten keinen Sprit mehr. Selbst an der Heizung in der Kaserne wurde gespart", sagt der Bausoldat. Er kennt sogar jemanden, der den Graben nahe Nea Vissa vor Kurzem fotografiert hat. Auf den Bildern ist ein schnurgerader Kanal zu sehen, teils schon geflutet, daneben Erdberge, auf einem Feld schwere militärgraue Bagger. Es sind Aufnahmen, wie sie noch nirgends publiziert worden sind. Zu dem Graben hinzukommen, ist unmöglich.
Angebliche Angriffspläne
Schon die ersten Nachrichten vom Schutzwallbau am Evros haben den EU-Beitrittskandidaten Türkei alarmiert. Mit "Sorge und Erstaunen" beobachte man den Aushub im Nachbarland, erklärte der neue türkische EU-Minister Egemen Bagis. Er könne nur hoffen, dass Griechenland keine außenpolitische Krise provozieren wolle, um von seinen Finanzproblemen abzulenken. Von einem geheimen Papier des griechischen Generalstabs vom Herbst 2010 wird berichtet. Darin soll stehen, dass die Türkei einen Angriff plane und neue Panzer habe, die man nur mit einem 30 Meter breiten Graben stoppen könne. Besonders heikel seien die Tage nach der türkischen Parlamentswahl im Juni 2011. Wenn der Premier Recep Tayyip Erdogan verliere, würde das Militär die Grenze überschreiten.
Nun hat Erdogan gewonnen, und kein Türken-Panzer ist über die Grenze gefahren. Aber die Buddelei macht alle nervös. "Es ist auch überraschend, dass Griechenland Geld für ein solches Projekt ausgibt, während es sich durch eine Finanzkrise kämpft", sagte Minister Bagis. Ein Graben sei letztlich immer eine Falle, es frage sich nur, für wen: "Wer Gräben baut, fällt selbst hinein."Die Türkei wolle dagegen keine neuen Gräben aufreißen, sondern bestehende überwinden. "Die Türkei will auf eine Zukunft hinarbeiten, in der unsere Soldaten zusammen ihre Ferien in der Ägäis verbringen statt bei Manövern." Türkische Zeitungen schrieben von der "Metaxas-Linie" und spotteten über die "Griechenparanoia". Ein Blogger schrieb: "Wenn sie den Graben fertig haben, sind sie so pleite, dass wir das Land einfach kaufen können. Aber wollen wir das ?"
Berliner Zeitung, 01.09.2011