Der Maler Hermann Nitsch zelebriert wieder sein Orgien-Mysterien-Theater: Gekreuzigte Schweinehälften

PRINZENDORF BEI WIEN, 30. Juli. Hermann Nitsch, Österreichs berufenster Aktionskünstler, hat es zuvor alle Welt wissen lassen: Heuer dauert das von ihm schon in den Sechzigern erfundene Orgien-Mysterien-Theater auf Schloss Prinzendorf keine sechs, sondern nur zwei Tage. Es gibt zehn Stunden Vorspiel, das Wochenende muss reichen. Nur wird der 65-Jährige diesmal auf die üblichen "Hausschlachtungen" verzichten, um bloß nicht wieder der "Caligula aus Prinzendorf" geheißen zu werden, weswegen ihm das Land Hessen von der Professur an der Städelschule ausgeschlossen hatte. Er durfte dort bis zum Abschied letztes Jahr nur Dozent sein, und das trug lediglich bei zur Rente eines normal Sterblichen.Die Türschützer in Österreich sind zufrieden: Die ansonsten von Nitsch für seine Mysterien akquirierten Stiere, Schweine und Schafe aus der der idyllischen Weingegend um das feudale Künstleranwesen bleiben dieses Jahr demnach am Leben. Wirken dem mit früherem Documenta-Ruhm bekleckerten Maler die Mysterien neuerdings auch ohne rohes Fleisch?Sie wirken nicht. Wenn Nitsch zur Sache geht, wie diesmal zum Wagnerschen Gralsthema, muss Blut fließen. Bloß, dass er sich die Tiere nun als Kadaver vom Schlachter liefern lässt. Denn in seiner "Partitur" sieht er sich außerstande, vom Animalischen abzusehen. Er kann die Passion Christi nur so aufzeigen, dieses "Opfer für die Blutschuld des Daseins" (Nitsch). Er muss die toten Tierkörper bekreuzigen und ausweiden, das Tierblut auf schneeweiße Laken rinnen lassen. Dabei müssen - und wenn die katholischen Würdenträger Österreichs ihn abermals der Ketzerei bezichtigen - die Kirchenglocken läuten und nächtens die Fackeln brennen für eine Prozession, das geht so bis Sonnenaufgang und wieder Sonnenuntergang. 130 Theaterspieler werden den Parsifal (Nitsch wollte ihn für die Wiener Staatsoper inszenieren, durfte aber nicht), in die Eselstadt tragen. So nennt er einen Teil seines barocken Schloss-Areals.Während des ganzen Brimboriums spielt ein Orchester mit 48-Stunden-Kondition und 16 Posaunen. Und ständig werden Speisen gereicht. Deswegen steht auf den europaweit verschickten Einladungen ja auch, bei Nitschs Spielen sollten die Zuschauer "Mitschmecker und Mitriecher" sein, allerdings könne jeder Teilnehmer jederzeit "den Handlungsort verlassen", zum Beispiel, um sich Schlafen zu legen. Dann aber verpasst derjenige womöglich den Sonnenaufgang und damit die große Umarmerei und Küsserei der Spieleteilnehmer im Sonnenblumenfeld. Aber Schlaf stärkt bekanntlich die Nerven, und die sind dann bestens gestählt für die sonntägliche Nonstopp-Blasmusik (zwei große Orchester), das üppige Essen und Trinken und den ganzen "Grals"-Überschwang, "bis die Sterne am Himmel stehen". Wenn sie denn zu sehen sind.Nitschs Ziel ist "das umfassende sinnliche Begreifen der eigenen Existenz in einem großen Fest des Daseins". Er will gar nicht provozieren, sondern beglücken. Da ist sie wieder, die Vision vom Gesamtkunstwerk, wenn es außerdem nach Exzess und damit Skandal klingt, riecht und schmeckt, ist es der freiheitsbetonten Kunst der späten Moderne doch stets förderlich. ------------------------------Foto: So geht es vor sich, das "Schmecken und Riechen" am Gral des Nitsch.