Der Mann im Dunkeln Fotografien von Pierre Gassmann im neuen Berliner Zentrum für Fotografie

Pierre Gassmann sagt, das fotografische Negativ sei eine Partitur. Eine, die nur ein Interpret umsetzen könne, der imstande sei, das Erlebnismoment, den künstlerischen Impuls des Künstlers nachzuvollziehen. Jahrzehnte war er Interpret, diese Zeit hat er im schwachen Schimmer von Dunkelkammerleuchten verbracht. Seine Fähigkeit, den fotografischen Visionen anderer nachzuspüren, seine technische Fertigkeit, dies auch bildlich umzusetzen, begründeten den Ruf seines Pariser Labors "Picto".Zu Gassmanns Kunden, oft auch seinen Freunden, zählten seit Ende der 40er Jahre die bedeutendsten Fotokünstler Europas: Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Martin Munkacsi, André Kertesz, Robert Capa ­ viele Emigranten wie Gassmann. Seine Berliner Ausstellung im neuen Fotozentrum in Mitte enthält deshalb Fotografien verschiedener Autoren, die eines verbindet: Sie wurden gesehen mit den Augen von Gassmann und von ihm technisch realisiert.Moderner BildjournalismusAuch der Avantgardekünstler Man Ray übergab seine Negative vertrauensvoll Gassmanns Fotolabor, als er nicht mehr selbst vergrößerte. Mit Man Rays Lichtbildern versammelt die Ausstellung einige der bekanntesten Fotos aus dem Umkreis des französischen Surrealismus, darunter das Doppelporträt "Baiser", mit zwei eng aneinandergeschmiegten Frauengesichtern von Anfang der 30er Jahre. Aber Gassmann war nicht nur Interpret, er war auch Fotograf, bevor er sich endgültig der Dunkelkammer zuwandte. Die Berliner Personalausstellung des in Paris lebenden, noch immer aktiven Breslauers, Jahrgang 1913, ist gleichzeitig die Wiederentdeckung eines Frühwerks und eine späte Reverenz vor einem Überlebenden des Exodus. Daß der moderne Bildjournalismus seine Wurzeln in der Weimarer Republik hatte, daß Deutschland nach 1933 auch die wichtigsten Fotografen und Fotokünstler durch Verfolgung und Vertreibung verlor, wird durch diese Ausstellung wieder schmerzhaft bewußt. Gassmann war schon 1933, nach einigen Studiensemestern in Berlin, aus Deutschland geflüchtet, weil seine jüdische Herkunft, wie auch seine Kontakte zu Kommunisten, ihn in Gefahr brachten. Wie viele deutsche Emigranten war er zunächst nach Paris gegangen und hatte sich der einzigen praktischen Tätigkeit zugewandt, die er beherrschte: der Fotografie. Die Bilder der Ausstellung bewahren die Blicke des Ankommenden in der fremden Stadt auf. Nach fast 65 Jahren erschließt sich ein inzwischen vergangenes Paris aus der Sicht des Flüchtlings: Passanten am Seinekai und in der Rue de Rivoli, das Bildnis einer jungen Frau hinter spiegelnden Kaffeehausscheiben, räumlich gestaffelte, teils unscharf wiedergegebene Gesichter in einer anonymen Menschenmenge. Gassmann hatte, auch vermittelt durch Kontakte seiner Mutter zu Bauhauskünstlern, das Formenvokabular des "Neuen Sehens" in die Fotografie aufgenommen. Eine typische Draufsicht der 20er Jahre findet sich in einer Aufnahme mit verharrenden Menschen am Seineufer: Dunkle Figurinen auf einem Schachbrettmusterboden, vom Glitzern des Wassers getrennt durch die bildbeherrschenden Parallellinien der Ufertreppen. Andere Fotografien zeigen sich mehr dem experimentellen Geist des Surrealismus verwandt. Ebenso wie Man Ray erprobte Gassmann verfremdende Techniken. Sein Selbstporträt aus dem Jahre 1938 ist im Tonwert-Umfang reduziert. Teils kehren sich Hell und Dunkel ins Gegenteil, teils werden Gesichtslinien betont: Die Pseudosolarisation verwandelt das Antlitz in ein immaterielles Gefäß.Die Ausstellung Pierre Gassmann ist die erste des neugegründeten Zentrums für Fotografie in der ersten Etage eines Gewerbehofes in der Charitéstraße. Finanztechnisch ist das Zentrum eine kommerziell arbeitende GmbH. Inhaltlich bestimmt sich das Ausstellungsprogramm des Zentrums nach den Vorstellungen einer fünfköpfigen Arbeitsgruppe, die in überwiegend ehrenamtlicher Arbeit den Betrieb der Galerie gewährleistetAmbitioniertes ProgrammDie folgenden Ausstellungen sollen wiederum Fotografen gewidmet sein, deren Bedeutung im internationalen Kontext unumstritten, aber in Deutschland weniger bekannt ist. Dieses ambitionierte Programm, dem auch Workshops und Vorträger angegliedert sind, wird parallel auch jüngere, weniger gesicherte Positionen zeigen.Das Zentrum für Fotografie ist trotz seines etwas gravitätischen Titels vorerst nur für eineinhalb Jahre angelegt. Danach wird sich erweisen müssen, ob die jetzigen Räume noch oder ob andere zur Verfügung stehen werden. Bis dahin wird sich auch erweisen, ob das Konzept des Zentrums mit seiner Spezialisierung auf ein bestimmtes Bildmedium unabhängig von staatlicher Förderung tragfähig ist.