Der poetische Archäologe der Berliner Mauer: zum Tod des Schriftstellers Werner Kilz: Auf hoher See

Er sprach immer wieder von dem Loch in seinem Herz. "Hier", sagte er, "nein, hier, mehr links. Da! Ein richtiges Loch." Ein Arzt hatte ihm schon früh erklärt, dass man damit nicht alt werden könne. "Der Arzt hatte es mit Schiffen. Er wollte aufs Meer und mich mitnehmen, als Koch. Der hätte mir auch das Logbuch gegeben. Das wär's gewesen. Da hätte ich meine Ruhe gehabt. "Stattdessen ging Werner Kilz, 1931 in Burg bei Magdeburg geboren, nach dem Abitur nach Halle, um bildende Kunst zu studieren. 1954 machte er sein Diplom als Bühnenbildner in Berlin-Weißensee. 1957 wurde er Redakteur der Zeitschrift "Jungen Kunst", wo kurz darauf auch Heiner Müller anheuerte. "Wir waren die letzten Mohikaner der Moderne", sagte Kilz, "bis man uns den Hahn abdrehte."Ihr Credo lautete "die Einigkeit der Einzelgänger", wie Heinrich Böll das beinah zeitgleich im Westen nannte. Heiner Müller wurde der poetische Chronist des Krieges, Werner Kilz der poetische Archäologe der Berliner Mauer. In seinem Roman "Freibank oder das Projekt der Spaltung" notierte er: "Sonntag, 13. August. Ich wurde von Saller geweckt. Ich verschloss meine Manuskripte. Wir redeten lange aneinander vorbei. Es war Nachmittag. Ich hatte bis zum Morgengrauen gearbeitet. Endlich begriff ich, was geschehen war."Ein Roman mit viel Schicksal: Im Oktober 1961, zwei Monate nach dem Mauerbau, floh Kilz durch die Gullyanlage von Ost- nach Westberlin. Kurz zuvor hatte er Norbert Randow, seinen Slawisten-Freund, mit dem Manuskript betraut. Die Staatssicherheit hatte sie jedoch lange schon im Blick gehabt und hängte Randow "Beihilfe zur Republikflucht" und vermeintliche "Bildung einer staatsgefährdenden Gruppe" an. Für ihn bedeutete das drei Jahre Gefängnis.Die Künstlergruppe der Solitären um Werner Kilz, Norbert Randow, Manfred Bieler, Eveline Kuffel, Alfred Matusche, Boris Djacenko, Henryk Bereska, Jutta Petzold zerstob: Der Dramatiker Matusche starb 1973 in Karl-Marx-Stadt am Suff, Djacenko zwei Jahre später in Ostberlin. Bieler ging 1964 nach Prag. Randow musste in den Knast. Die Dichterin Kuffel verbrannte 1978 im Bett. Bereska überwinterte im brandenburgischen Kolberg. Jutta Petzold, von allen Droste genannt, landete nach missglücktem Fluchtversuch in der Psychiatrie der Berliner Charité.Werner Kilz saß nach 1961 in einer Münchner Kellerwohnung, zeigte auf sein Herz und schrieb: "Ich las Erzählungen und stellte jedes Mal fest, dass ich das noch allemal konnte. Ich konnte es auch, und konnte es doch nicht. Ich war nicht in der Lage, eine Geschichte zu erfinden." Schreiben war für ihn ein Zustand wie auf hoher See. Es sollte offen bleiben, wie es ausgeht. Er notierte und trug Materialien zusammen: Skripte, tausende Zeitungsseiten, Kopien, Fotos, nicht mehr greifbare Bücher. Ein Endlos-Archiv aus deutscher Geschichte.Kilz mochte es konkret. Als er nach 1989 zurück nach Berlin kam, hatte er seinen Riesen-Text "Geneigte Ebene", an dem er dreißig Jahre lang geschrieben hatte, fertig. "Ich schreibe nur noch paar Kürzungen rein", griente er fünfzehn Jahre lang. Solange er auf hoher See war, konnte er die Geschichte offen halten. Wenn man ihn in Kreuzberg in den letzten Jahren besuchte, hieß es: "Ich muss noch mal in die Masten klettern." Dann verzog er sich in sein Archiv.Werner Kilz wird heute, 12 Uhr, in Berlin-Schöneberg, auf dem Alten St. Matthäus-Friedhof, Großgörschenstraße 12-14, beerdigt.------------------------------Foto: Werner Kilz (1931 - 2007)