Der Staatsschauspiel-Intendant Wilfried Schulz kommt nicht als Arzt, aber als Ethnologe nach Dresden: Wir sind die Wunde, wir tun weh

Wilfried Schulz, Jahrgang 1952, studierte Theaterwissenschaften, Politologie und Germanistik an der FU und an der Pariser Sorbonne und begann 1976 eine wissenschaftliche Karriere in der HdK Berlin. 1981 ging er als Dramaturg ans Theater, zunächst nach Heidelberg, wo er den Heidelberger Stückemarkt mitbegründete, 1986 nach Stuttgart zu Ivan Nagel. 1988 begann die Zusammenarbeit mit dem Intendanten Frank Baumbauer, die Schulz, nun Chefdramaturg, zunächst nach Basel und dann zum Hamburger Schauspielhaus führte. Im Jahr 2000 übernahm er mit dem Schauspiel Hannover sein erstes Theater und eroberte erfolgreich die Stadt. Schulz bekam mehrere prestigeträchtige Intendanzen angeboten, in der wirren Phase nach dem Christoph-Hein-Rücktritt auch die des Deutschen Theaters. Nun übernimmt er von Holk Freytag das eher unscheinbare Staatsschauspiel in Dresden.Herr Schulz, Sie wechseln in diesem Sommer von Hannover nach Dresden. Wie war die Abschiedsfeier?Wehmütig, tränenreich, mit ausgerollten Transparenten im Zuschauerraum. Es ist ein großes gegenseitiges Vertrauen gewachsen in Hannover in den letzten neun Jahren, eine große Wärme.Wenn es am schönsten ist .. soll man aufhören. Zum Schluss war Hannover eine Warmbadeanstalt. Es war alles so schön und alle waren so einverstanden: Oberbürgermeister, Minister, Sponsoren, Freundesverein, Publikum, Hannover 96 - das ging quer durch. Aber Kunst braucht auch neue Impulse und Reibung, und ich brauche Bewegung.Also, auf zur nächsten Baustelle! Wenn es einmal klappt, klappt es vielleicht noch einmal.Es gibt kein Erfolgsrezept. Ich bin Dramaturg. Was ich suche, ist die Differenz, das je Eigene, sonst würde ich nicht nach Dresden gehen. Ich mache da etwas anderes als in Hannover. Ich glaube an das Stadt- und Staatstheater, daran, dass das Theater mit der jeweiligen Gegenwart, dem bestimmten sozialen Kontext des Publikums zu tun hat.Sie haben die Frage schon oft gehört: Warum Dresden?Ich hatte drei Optionen, zwei davon waren große westdeutsche Städte. Wäre ich dorthin gegangen, dann hätte ich sehr genau gewusst, was ich weiter tue, wo ich anknüpfen kann. Ich bin 57 - und das einzige, was ich in meinem Leben nicht haben will, ist Langeweile. Das ist das entscheidende Kriterium. In Dresden komme ich in eine Situation, die einfach am weitesten außerhalb meines Gesichtskreises liegt. Theater hat etwas mit Ethnologie, mit Akzeptanz von Fremdheit zu tun. Man nähert sich im positiven Affekt, mit Liebe und Zuwendung, weicht aber gleichzeitig in die analytische Betrachtung zurück. Die Beziehung zwischen Theater und Gesellschaft ist ein Wechselspiel von Nähe und Distanz. Dazu kommt eine gewisse biografische Verbundenheit.Sie sind in der DDR, in Falkensee bei Berlin geboren. Wann sind Sie in den Westen gegangen?Ich bin 1952 geboren, 1956 sind meine Eltern in den Westen gegangen, nach Charlottenburg. Mein Vater hat die Arbeitsstelle gewechselt von VEB Stahlwerke Hennigsdorf zu Siemens Hausgeräte-Werke. Ich bin unter Prostest mitgegangen.Sie waren also vier Jahre alt. War der Protest politischer Natur?Weniger. Weil wir ohne Ausreisegenehmigung gingen - die Mauer stand noch nicht -, mussten Erinnerungsstücke, ein Teil des Haushalts und die Dokumente mit dem Kinderwagen transportiert werden, mit mir als Tarnung, und ich sah nicht ein, warum ich stillsitzen sollte. Ich bin also in West-Berlin groß geworden, aber die Hälfte der Verwandtschaft war im Osten, ist es heute noch. Wir sind eine typische West-Ost-Berlin-Familie.Haben Sie die Ost-Familie besucht?Nicht nur das: Mitte der Siebziger haben meine Eltern gleich zwei Passierscheine beantragt, für einen Montag und den darauf folgenden Donnerstag. Wir fuhren am Montag hin, und meine Eltern fuhren mit meinem gleichaltrigen Cousin wieder zurück. Mein Onkel, ein Dachdecker, nahm mich in seinem Motorrad-Beiwagen mit nach Falkensee für drei Tage.Wie leichtsinnig. Wenn Ihr Cousin nun nicht zurückgewollt hätte?Dann wäre ich vielleicht im Osten groß geworden. Es wundert mich noch heute, warum meine Familie das gemacht hat. Die neigen eigentlich nicht zur Abenteuerlust.Ihr Cousin könnte gewissermaßen Sie sein. Was ist aus ihm geworden?Handwerker in Falkensee.Wann wurde Ihnen die politische Dimension der Erlebnisse bewusst?Spätestens als ich mein Studium in der FU um 1970 herum angefangen habe. Eine relativ aufregende Zeit. Ich studierte Germanistik und Politologie am Otto-Suhr-Institut, wurde mit allen Fraktionierungen der Linken aus dieser Zeit vertraut und habe mich selber in dem Bereich bewegt. Ich habe meine Kapital-Kurse gemacht. Das war natürlich mit einem großen Utopie-Potenzial aufgeladen, brach sich aber an der familiären, biografischen Erfahrung. Das war ein gutes Spannungsfeld.Wie haben Sie die Wiedervereinigung erlebt?In Basel, in der Theaterkantine. In der Schweiz hat das ja keinen so richtig interessiert. Ich fühlte mich um den historischen Moment betrogen. Und in den Folgejahren, die ich auch nicht in Berlin lebte, hatte ich ein Eifersuchtsproblem. Ich kannte Berlin, ich habe hier bis zu meinem 32. Lebensjahr gelebt. Und jetzt veränderte sich die Stadt in meiner Abwesenheit, hinter meinem Rücken, und ich musste mir von irgendwelchen Leuten, die vor drei Jahren nach Berlin gezogen sind, meine Stadt erklären lassen. Beleidigend. Dresden ist auch eine Gelegenheit, einem Wandel nachzuspüren, ihn zu reflektieren. Dresden scheint mir noch viel mehr Osten als Berlin, wo die Unterschiede weitgehend wegbehauptet sind.Was hat der Ethnologe Schulz in Dresden denn schon so beobachtet?Ich finde Dresden spannend, interessant in seiner manchmal schönen, manchmal nervenden Sehnsucht nach Bürgerlichkeit. Es gibt für das Theater viel zu tun. In Dresden geht es immer stark um parteipolitische Zuordnungen und um Rechts-Links-Zuordnung. Die Mitte ist in Dresden schmal. Man hat mir geraten, dass ich etwas tun müsse, um nicht im falschen Lager zu landen. Aber was ist das falsche Lager? Theaters lässt sich nicht parteipolitisch positionieren. Theater sucht das Andere, das Fremde, die Differenz und die Akzeptanz dafür bei jedem Einzelnen und in der Gesellschaft. Kunst kann nicht anders als kritisch gegenüber den bestehenden Verhältnissen sein. Das hat jede Stadt, hat jedes Land zu akzeptieren, wenn sie sich einen subventionierten Betrieb leisten. Ich rede selbstverständlich und mit Vergnügen mit Leuten aus allen politischen Lagern, wenn sie sich für unsere Arbeit interessieren. Das wird in Dresden schnell als Affront gewertet.Wie kommt das?Das hat sicher damit zu tun, dass die Positionssuche sowohl der einzelnen Menschen als auch bestimmter Gruppierungen in der Stadt auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch nicht abgeschlossen ist, sondern sehr offen ist, manchmal hektisch zuckend. Die Situation ist in Dresden viel rauer, verwundeter, was durch die sächsische Freundlichkeit ein bisschen verdeckt ist. Themen wie Rechtsradikalität werden schnell verdrängt, man denkt, man beschmutzt sich damit. Da kommt auch von ansonsten aufgeschlossenen Politikern schon mal ein Satz wie: "Das ist nicht unser Interesse, dass da immer wieder drin herumgewühlt wird; zeigen Sie doch mal die schönen Seiten!" Aber wir sind die Wunde, wir tun weh. Und zwischendurch gibt es Entspannungsübungen - für uns und das Publikum.Ist das die Haltung, aus der heraus die Dresdner ihre Frauenkirche wieder aufgebaut haben?Ich glaube, ja. Ich würde gern ein Symposium zum Schönheitsbegriff von Dresden machen. Es muss alles schön sein. Man möchte zu den Guten gehören, möchte Opferstadt sein, das geht bis hin zu skurril-kleinlichem Aufrechnen von Totenzahlen. Andererseits ist diese Harmoniesehnsucht wahnsinnig groß. Die historische Altstadt ist fast komplett nachgebaut. Was bedeutet Originalität, was Identität? Das Gebäude des Staatsschauspiels wurde im selben Jahr wie die Berliner Volksbühne gebaut - zwei Häuser, die aus unterschiedlichen Jahrhunderten zu stammen scheinen. Es wurde damals der konservativste Entwurf angenommen und zwar mit der Begründung: Es steht neben dem Zwinger, also muss es auch ein bisschen wie der Zwinger aussehen. So wird bis heute argumentiert. Man versucht, Brüche zu vermeiden. Bei der Brückendiskussion hat dieser Instinkt des Beharrens auf Gewachsenem ausgesetzt. Dieses Bedürfnis nach Schönheit, Harmonie und geschlossenen Oberflächen - sei es in Historie, Natur und Gesellschaft -, das ist etwas, das bei uns am Theater eher gebrochen wird. Wir leben aus den Widersprüchen.Haben Sie Angst, dass Ihnen durch irgendwelche Intrigen der Handlungsspielraum abgegraben wird?Nein. Ich vertraue auf die Offenheit und Neugier dieser Stadt. Außerdem sind meine Schultern breiter, als es den Anschein hat, und meine Lust auf Dresden ist groß. Natürlich würde ich mir ein paar große Erfolge wünschen, das macht die Sache leichter. Aber man muss die Leute einzeln einsammeln, muss sich durch die Stadt durchfressen, muss versuchen, in jeden einzelnen Kopf hineinzukommen. Das ist eine Arbeit, für die man Verbündete braucht. Ich möchte natürlich gewinnen. In dem Sinne, dass unser Theater ein spannendes Zentrum in der Stadt wird, ein Ort, wo die Menschen in der Auseinandersetzung mit Kunst etwas über sich und ihre Identität erfahren. Und ein Theater, das heftig vernetzt ist mit der deutschsprachigen und internationalen Theaterlandschaft und ganz selbstverständlich mitten in der Entwicklung neuer Formen und Ästhetiken steht.Und wenn Sie verlieren?Mit ein bisschen Zähigkeit wird man in drei vier Jahren herauskriegen, ob man hineinkommt in diese Mitte der Gesellschaft, ob es eine interessante Reibung gibt. Ich bin nicht der Dogmatiker, der sagt: Ich mach euch glücklich, ob ihr wollt oder nicht.Das Gespräch führte Ulrich Seidler.------------------------------Schulz' Pläne für das StaatsschauspielWilfried Schulz setzt in guter alter Stadttheater-Tradition auf Vielfalt.Sein Spielplan umfasst Klassiker wie Shakespeare, Goethe, Ibsen oder auch Astrid Lindgren und Bert Brecht, aber auch zeitgenössische Autoren wie Ingo Schulze, Uwe Tellkamp, Martin Heckmanns, Ewald Palmetshofer, Lutz Hübner sowie die bewährten Franz-Wittenbrink-LiederabendeDie Regisseure sind tendenziell um Mitte Dreißig; es gibt zwei Hausregisseure: Julia Hölscher und Tilmann KöhlerEröffnet wird die Spielzeit mit Wilhelm Meisters Lehrjahre (Regie: Friederike Heller, Premiere 18. 9.) und Romeo und Julia (R.: Simon Solberg, P.: 19. 9.)Tel.: 0351-491 35 55------------------------------Foto: Intendant Schulz: "Meine Schultern sind breiter, als es den Anschein hat."