Deutsche Einwanderer trugen wesentlich bei zum Entstehen dieser besonderen Nation - und sind in ihr aufgegangen: Franz, der Brasilianer

RIO DE JANEIRO. Wenn die Pioniere anfangen, von den alten Zeiten in Lucas do Rio Verde zu erzählen, dann klingt es immer so, als wäre das ewig her: Als die Straßen noch nicht asphaltiert waren, als es keine Häuser, nur Bretterbuden gab und als von Telefon noch keine Rede sein konnte, geschweige denn von Handy und Internet, über die sich die Farmer in Lucas do Rio Verde heute über den Soja-Weltmarktpreis auf dem Laufenden halten. Denn in Lucas do Rio Verde dreht sich alles um Soja.Das Getreide hat der Stadt schnell Wohlstand gebracht, und die Pionierzeiten - das war erst in den Achtzigern. Lucas hat also keine Tradition, und deshalb hat Marino Jos Franz vor ein paar Jahren beschlossen, einfach eine zu erfinden. Seitdem feiert Lucas jedes Jahr das deutsche "November-Fest" - November, weil es in Brasilien schon genug Oktoberfeste gibt."Willcommen"Franz, der Anfang der Neunziger mit 600 Dollar Startkapital ein Multimillionen-Geschäft mit Soja aufgezogen hat, spricht das kernige Deutsch seiner Vorväter. Wenn seine Volkstanzgruppe - die Damen im Dirndl, die Herrn in der Kniebundhose - auftritt, dann stört sich niemand daran, dass sie im schwarz-rot-gold dekorierten Saal unter dem Schild "Willcommen" tanzt. Und Freddy, Heino, Heintje gehen in Lucas do Rio Verde selbstverständlich als typisch deutsche Kultur durch.1824 begann in Südbrasilien, wo auch Franz herkommt, die deutsche Einwanderung. Immer wieder haben deutsche Forscher, Künstler, Geschäftsleute wichtige Beiträge zur Entwicklung Brasiliens geliefert, ganz zu schweigen von den Kolonisten, die unter härtesten Bedingungen das Land urbar machten. Heute tragen, so wie der Soja-König Franz, Millionen von Brasilianern deutsche Familiennamen, und wenn sie auf Deutsche treffen, sagen sie meist auch gleich bei der Vorstellung dazu, welcher ihrer Vorfahren wann nach Brasilien kam - und dass sie persönlich aber nicht mehr Deutsch sprechen.Was denn das Brasilianische an Brasilien sei, fragte sich die geistige Elite, nachdem der aus Portugal stammende Kaiser 1889 davongejagt und die Republik ausgerufen worden war. Die Antwort ist einfach, und sie gilt eigentlich bis heute: Die Summe der fremden Einflüsse ist es, die etwas Neues, Brasilianisches entstehen lässt.Zum Beispiel der greise Architekt Oscar Niemeyer: Er hält sich mit seinem so deutsch klingenden Nachnamen nicht groß auf, sondern zählt die verschiedenen Wurzeln seiner Familie auf - und wer, wenn nicht der Baumeister von Brasilia, hätte etwas genuin Brasilianisches geschaffen!Daraus folgt natürlich, dass die Herkunftsnationalitäten der Brasilianern alle gleich akzeptiert sind; eine Elite, die sich durch Herkunft, Hautfarbe und Religion definiert, wie etwa die weißen protestantischen Angelsachsen in den USA, hat sich in Brasilien nicht gebildet. Umgekehrt heißt das aber auch, dass die Bedeutung, die das Land der Vorväter für das Individuum hat, fast völlig zurücktritt hinter der starken brasilianischen Identität.Jemand, der in Brasilien geboren und aufgewachsen ist, mag Müller, Maier oder Schulze heißen - auf die Idee, sich als Deutscher zu bezeichnen, käme er nicht. Eine Wurzel für dieses Gefühl liegt schon bei den ersten Einwanderern. Sie kamen noch bevor Bismarck Deutschland zu einem Staat gemacht hatte und brachten ausgeprägt regionale Identitäten mit: als Badener, Pommern, Preußen.So ist ein unbefangenes Spiel mit den Wurzeln, wie das der Soja-König Franz mit seinem Novemberfest tut, erst möglich. Doch im Großen und Ganzen geht es deutschstämmigen Brasilianern nicht anders als ihren Landsleuten - woher sie auch stammen mögen - man schlägt sich durch, ist aber doch recht froh in seinem Leben. Es besteht einfach keine Notwendigkeit, sich als deutschstämmiger Brasilianer eine Art deutsche Ersatz-Identität zu konstruieren.------------------------------In die neue Heimat - nicht ohne meinen VereinIn den Dokumenten der brasilianischen Regierung werden all jene Einwanderer als Deutsche eingestuft, die auf Schiffen ankamen, die von deutschen Häfen abgelegt hatten, also auch Schweizer, Norweger, Russen.Die deutsche Einwanderung erfolgte in Wellen. So stiegen nach der gescheiterten Revolution 1948 in Deutschland die Zahlen deutlich an, blieben aber im Vergleich zu anderen Migrationsströmen, zum Beispiel in die USA, gering (1848 bis 1872 kamen 20 000 Menschen). Die Zahlen erreichten zwischen 1920 und 1929 den Spitzenwert von knapp 76 000 Neuzugängen.In Süd-Brasilien, wo die Deutschen praktisch ein geschlossenes Siedlungsgebiet bewohnten, hielten die ersten Zuwanderer lange zäh an ihren Eigenarten fest. Sie waren konservative Bauern, lebten isoliert, gründeten Schützen-, Gesangs-, Feuerwehrvereine und blieben im katholischen Brasilien hartnäckig Lutheraner. Das verstärkte den Eindruck, dass sie sich nicht in den brasilianischen Schmelztiegel einbrennen lassen wollten.Im Zweiten Weltkrieg, als Brasilien 1942 an der Seite der Alliierten gegen Deutschland zog, wurde es brenzlig für die Deutschbrasilianer. Sie wurden als Fünfte Kolonne stigmatisiert, obwohl die meisten von ihnen den Nazis eher indifferent gegenüber standen.Nach 1945 diente Brasilien Nazi-Größen wie dem KZ-Arzt Josef Mengele als sicheres Exil.------------------------------Karte: Deutsche Siedlungsgebiete------------------------------Foto: Nein, das ist nicht Wernigerode: Volksfest und Fachwerk gehören zum südbrasilianischen Blumenau.------------------------------Foto: Oscar Niemeyer, der große Architekt, baute Brasiliens neue Hauptstadt Brasilia.------------------------------Foto: Gisele Buendchen - auch das Model hat deutsche Vorfahren.