Die Bürger und die Parteien in unsicheren Zeiten: BUNDESWAHLKAMPF
In der Rhetorik des diesjährigen Bundeswahlkampfes wird "die Mitte" wieder eine wichtige Rolle spielen. Fast alle Parteien wollen die "politische Mitte" bilden, anbieten und repräsentieren. So begehrt die "Mitte" angesichts dessen auch sein mag, so vage bleiben die programmatischen Parolen, die für die Besetzung der "politischen Mitte" qualifizieren sollen. Doch das ist, wie jeder weiß, für die Bewerbung um einen Platz in der Mitte keineswegs hinderlich. Denn noch bevor die Parteien in die Mitte wollten, drängte eine wachsende Zahl von Menschen zur "Mitte", zu "Normalität" und "Durchschnitt".Diese Beobachtung widerspricht in merkwürdiger Weise den alltagskulturellen Grundüberzeugungen, die der Zeitgeist über die heutige Gesellschaft und seine Bewohner tagtäglich von sich gibt. Danach leben wir in einer Gesellschaft der Distinktion, der Extreme, der Leistung, des Wandels. Die Botschaft dieses Zeitgeistes ist, dass Originalität, Besonderheit, Eigensinn, Innovation oder Experimentierfreude prinzipiell hoch geschätzt seien, - während Traditionalität, Mittelmaß und Normalität abgewertet werden. Die Werbung wird von Figuren bevölkert, die überall nicht nur das Beste, sondern auch speziell auf ihre Wünsche zugeschnittene Produkte wollen, selbstgewiss, egozentrisch, unnachgiebig und ungeduldig: Erwarten Sie nicht irgendein Auto, sondern ihr Auto. Wir bauen es. Im Jahr 1988 notierte Hans Magnus Enzensberger: "Kritische Köpfe pflegen das Mittelmaß im Ton der Erbitterung auszusprechen, als drücke es die letzte Stufe der Verdammnis aus. Im Vergleich dazu wirken Prädikate wie abscheulich, verheerend, grauenvoll fast wie eine Auszeichnung. Die Mediokrität ist das Allerletzte. Verächtlicher kann ein Urteil nicht ausfallen." Eine Gesellschaft, die scheinbar die Grenzen, das Neue, die Extreme, die Spannung begehrt und die Mitte verlassen hatte. Im Jahr 1927 kritisierte Hermann Hesse im Steppenwolf noch den Menschen in "der temperierten Mitte der Bürger": "Nie wird er sich aufgeben, sich hingeben, ... Unbedingtheit ist ihm unerträglich, ... er will zwar tugendhaft sein, es aber auch ein bisschen gut und bequem auf Erden haben. Kurz, er versucht es, in der Mitte zwischen den Extremen sich anzusiedeln, in einer gemäßigten und bekömmlichen Zone ... statt Gottbesessenheit erlernt er Gewissensruhe, statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequemlichkeit ... "Hesse würde staunen, auf welchen verschlungenen Pfaden heutzutage wieder die Mitte gefunden wird. Die Sozialwissenschaften sprechen von Individualisierung, Pluralisierung und Fragmentarisierung der Lebensverläufe. Man beschreibt, - was jeder mit Blick auf seine Kinder und Enkel, auf seine Eltern und Großeltern auch beobachten kann - dass sich Biografien immer weniger, von ,selbst ergeben und immer stärker vom Einzelnen gewählt, geplant und organisiert werden müssen. Das ist gut, weil man nicht mehr in dem Maße wie früher zu einer vorbestimmten Lebensbahn verdammt ist. Das ist schwer, weil man nun immer wieder steuernd eingreifen muss. Das ist riskant, weil die Lage sich immer öfter ändert und man selbst jede Fehlentscheidung ausbaden muss. Und Grenzen gibt es obendrein natürlich immer noch, die finanziellen Ressourcen und das kulturelle Kapital der Personen und Familien setzen ebenso einen Rahmen für die Lebensprojekte wie das Ticken der eigenen biologischen Uhr. Der moderne Mensch muss nun in einem schwer vorausberechenbaren Geflecht von Chancen und Risiken seine personale Identität selbst managen. Es ist immer schwieriger, eine konfektionierte und mit einer 20-Jahres-Garantie versehene Identitäts-Hülse auszufüllen, weil es sie kaum noch gibt.Die Aufgabe, die eigene Identität zu entwerfen und auszugestalten ist mit vier grundsätzlichen Problemen verbunden: Dem Problem der Wahl, aus beträchtlich vermehrten Möglichkeiten die jeweils individuell gemäßen herauszufinden und umzusetzen. Das Problem der Ressourcen, die man beim Planen und Verwirklichen aktivieren kann. Dem Problem der sozialen Anerkennung, das sich stellt, wenn ich, mit dem gelösten Rätsel meiner Existenz und Identität dennoch isoliert bleibe. Und das Problem der rasant schwindenden Vorhersagbarkeit und Durchschaubarkeit wirtschaftlicher und administrativer Entwicklungen, auf die man sich nichtsdestotrotz mit langfristigen Entscheidungen einstellen muss.Dennoch zeigt ein Blick in den Alltag nicht eben ein Heer von Exoten, Paradiesvögeln, Individualisten und Lebens-Artisten. Man trifft eher auf uniformierte Normalität. Wo der Mensch früher durch feststehende Normen gebunden wurde, bindet sich heute das selbstnormalisierende Subjekt ,freiwillig an eine Durchschnitts-Identität - trotz zunehmender juristischer und moralischen Libertät. Wenn die Zeiten unsicher werden, ist es offenbar besser, in der Mitte zu sein.Wenn es also für die Masse der Menschen der spätmodernen Gesellschaft höchst unklar geworden ist, welche Pläne man noch umsetzen kann, höchst unklar ist, was im nächsten Jahr möglich sein wird (im Guten wie im Schlechten), wenn höchst unklar ist, mit welchen Anforderungen man im nächsten Jahr konfrontiert sein wird, und wenn es unklar ist, ob man diesen Standards wird genügen können, wenn es höchst unklar ist, welche Folgen sich aus meinen Positionierungen und Entscheidungen ergeben - dann erscheint es wic htig und sicherer, sich wenigstens in der Mitte zu befinden und nicht an irgendwelchen Rändern. Die "Mitte", der "Durchschnitt", die "Normalität" ist einer der wichtigsten Leuchttürme beim Navigieren auf dem Ozean der Möglichkeiten geworden. Was "die Mitte" tut, denkt, schätzt und anstrebt, kann so falsch nicht sein, es verspricht schon aus statistischen Gründen praktikabel und anerkannt zu sein. Die Leute setzen in der komplexen und wenig vorausberechenbaren Welt mehr und mehr auf Wahrscheinlichkeiten - auf ein probabilistisches Steuerungsmodell.Aber was ist im konkreten Fall die Mitte? Der Durchschnitt? Welche Lebenshaltung ist Erfolg versprechend und anerkannt? Was ist normal? - Was Normal ist, erschließt sich eigentlich erst retrospektiv - um so schneller muss man sich informieren und darauf einstellen. Darüber wird man heute in jeder Beziehung und unaufhörlich ins Bild gesetzt. Eine Flut von Statistiken, Diagrammen und Info-Grafiken, die Rede über Trends und Tricks wirken unablässig auf die Menschen als eine Art "Normalisierungswissen" (J. Link) ein. Über den Körper, die Ehe, die Familien, die Lebensführung als Arbeitnehmer und Verbraucher sind zu jeder Einzelfrage die statistische Verteilung, die Durchschnitts- oder Normalwerte zu erfahren. Die Medien zeigen regelmäßig mit Bestsellerlisten, was die begehrtesten Bücher und die Charts, was der Norm-Geschmack in der Popmusik ist. Und schließlich sei noch die Meinungs- und Werteforschung genannt, die regelmäßig über die durchschnittliche Normalität im Denken, Werten und Fühlen der Menschen informiert. Auf diesen verstärkten Mitte-Bezug in unsicheren Zeiten reagieren auch die Verkäufer von Politik. In einer Kultur mit den oben beschriebenen Gewohnheiten beim Denken, Systematisieren, Fühlen und Werten ist es sehr funktional, auch im Bereich politischer Programme und Positionen eine "Mitte", ein Lager der "Normalität" zu konstruieren. Basis dieser Rhetorik ist die gewohnte politische Links-Rechts-Topik. Als Ergebnis der englischen bürgerlichen Revolution saßen und sitzen sich im britischen Unterhaus Regierungs- und Oppositionsparteien in Blöcken gegenüber: Rechts vom symbolischen Vertreter des Königs in der Mitte sitzt die Regierungspartei, links davon die Opposition. Während im britischen Parlament die Parteien je nach Mehrheit, beziehungsweise Regierung, die Plätze wechselten, wurde die Recht-Links-Topik seit der Französischen Revolution in Nationalversammlung und Konvent ein Ausdruck von Gesinnung der Abgeordneten: Rechts saßen royalistisch und links republikanisch Gesinnte, so, wie es später dann auch in Parlamenten anderer Länder gehalten wurde. Wenn es "Rechts" und "Links" gibt, so lehrt die Alltagserfahrung, dann gibt es auch eine Mitte dazwischen und etwas, was außerhalb dieser Figuration liegt. Letzteres sind die Ränder, in der Sprache einer so verstandenen Politik, die Extreme.Alle politischen Positionen haben nach diesem vereinfachenden Verständnis mindestens ein Merkmal gemeinsam, an dem sie angeblich gemessen werden können, nämlich die graduelle "Abweichung" von der derartig herbeigezauberten Mitte. Diese Metrisierung der politischen Landschaft lässt die statistische Mittellage zu einer axiomatischen Mittellage, also zu moralischer, wertbezogener Normalität oder Maßgeblichkeit avancieren.Die Reputation, die die "politische Mitte" am Ende des 20. Jahrhunderts bei der Bevölkerung hat, resultiert zum einen aus den leidvollen Erfahrungen des ,europäischen Bürgerkriegs in der ersten und des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Zum anderen hängt sie mit dem beschriebenen alltäglichen Dilemma von individuellen Planungs- und Steuerungs-Bedürfnissen der Leute und ihrer Ohnmacht gegenüber der unaufhaltsamen und unberechenbaren Dynamik der Globalisierung zusammen. Viele Menschen reagieren darauf mit einer Orientierung auf Mitte, Durchschnitt und Normalität. Die Politik versucht diese Steuerungs- und Balanceversuche der Bürger in ihrer Selbst-Präsentation zu spiegeln: "Wir sind die Mitte." So als wäre das schon ein Programm.Nach Jahrzehnten, in denen der erklärte politische Wille in Deregulierung und Privatisierung bestand, offenbart die Politik nun, dass man kaum gestalten und planen könne - weswegen der Versuch, politisch irgendwie die Mitte zu halten und ansonsten in eine unbestimmte Zukunft zu driften, zum Programm erhoben wird. Doch als Programm ist die "politische Mitte" ein Unding. Der politische Kompromiss ist zwar das regelgerechte Ergebnis von Politik, - aber doch nicht sein programmatisches Ziel. Politische Strategie hat in sich schlüssige, praktikable, aber in seiner Wertebasis durchaus tendenziöse Lösungsvorschläge zur Diskussion und zur Wahl zu stellen - und nicht Meinungsbildung und Wahl vorwegzunehmen. Mit der Rede von der "politischen Mitte" als (angebliches) programmatisches Ziel entfernen sich die Berufs-Politiker von ihrer Rolle im demokratischen System. Sie verschleiern mit der Mitte-Rhetorik Inhalt und Wertebasis ihrer Programmatik. Damit mindern sie nicht nur das Risiko von unvorteilhaften Wählerentscheidungen, sie verhindern auch Transparenz, Diskussion, Meinungsbildung und wirkliche Wahl.Wenn es für die Masse der Menschen der spätmodernen Gesellschaft höchst unklar geworden ist, welche Pläne man noch umsetzen kann, erscheint es wichtig, sich nicht an irgendwelchen Rändern zu befinden.Wenn es für die Masse der Menschen der spätmodernen Gesellschaft höchst unklar geworden ist, welche Pläne man noch umsetzen kann, erscheint es wichtig, sich nicht an irgendwelchen Rändern zu befinden.