Die Eltern, die ihre Tochter Jessica in einem dunklen Zimmer verhungern ließen, sind wegen Mordes zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden: "Eine Tat wie diese macht ratlos"

HAMBURG. Als der Vorsitzende Richter noch einmal genau schildert, unter welch unvorstellbaren Umständen die kleine Jessica zu Tode kam, da seufzen einige Zuschauer auf. Auch wenn man es schon oft in den Zeitungen lesen konnte und im Fernsehen erzählt bekam, der Schrecken dieser Tat vergeht nicht. "Ihr Kinderzimmer wurde für Jessica zum Gefängnis, das sie nicht mehr verlassen sollte", sagt der Richter Gerhard Schaberg. "Die Fenster waren verdunkelt, die Tür verschlossen. Es gab kein Licht. Die Zimmerdecke war mit Schimmel überzogen, es roch modrig. Von der Matratze waren nur noch die Sprungfedern da. Bis zu einer Höhe von einem Meter zehn war der Putz abgekratzt."In diesem Verlies, unter diesen Umständen hat Jessica vier Jahre lang gelebt, bei ihren Eltern im Hamburger Problemviertel Jenfeld. Bis sie in der Nacht zum ersten März an einem Pudding verendete, den ihr geschundener kleiner Körper nicht mehr aufnehmen konnte. Als sie starb, war Jessica sieben Jahre alt, aber sie wog so viel wie eine Zweijährige.In dem Fall, der das Land aufwühlte, hat das Hamburger Oberlandesgericht unter dem Vorsitz von Gerhard Schaberg nun ein Urteil gesprochen. Der Richter verurteilte Jessicas Eltern, die 36-jährige Arbeitslose Marlies S. und den 50-jährigen Anstreicher Burkhard M., wegen gemeinschaftlichen Mordes zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Sie hätten das Kind im vollen Wissen um seinen erbarmungswürdigen Zustand grausam verhungern lassen und seelisch schwer misshandelt. Sie hätten aus einer "mitleidlosen, heimtückischen, böswilligen Einstellung gegenüber dem Kind" gehandelt.Allerdings hätten die Eltern nicht versucht, ihre Tat zu verdecken, schließlich hätten sie selbst die Feuerwehr gerufen und auch Geständnisse abgelegt. Und sie hätten genau gewusst, was sie taten. Sie hätten die Folgen gekannt. Ja, sie hätten sich sogar vor Gericht noch abzusprechen versucht."Eine Handlung wie diese übersteigt eigentlich die Vorstellungskraft", sagt der Richter und blickt auf Marlies S. und Burkhard M., die wie an den meisten Prozesstagen auch jetzt keine Reaktionen zeigen. Sie sitzen, abgeschirmt von den Zuschauern, hinter einer Panzerglasscheibe. Teilnahmslos. Reglos. Als ginge sie dies alles gar nichts an.Gerhard Schaberg, der selbst zwei Kinder hat, sagt, weder die Zeugen noch das Gericht könnten unberührt sein von dieser Tat. Viele Fragen seien offen geblieben. Zum Beispiel, warum Marlies S., die doch die Nummer des Sozialamtes und eines Arztes besaß, keine Hilfe holte. Und er zitiert den Berliner Gerichtsmediziner Körber, der im Verfahren gesagt hat: "Wir müssen hinnehmen, dass sich die Tat so ereignete, wie sie sich ereignete."Richter Schaberg trägt in seiner einstündigen Urteilsbegründung ruhig und eindringlich vor, was das Gericht als Wahrheit erkannt hat. Eine Wahrheit, die mühsam aus Zeugenaussagen, Indizien, Fotos und den Aussagen der Angeklagten rekonstruiert werden musste. "Nicht alles konnte genau geklärt werden", sagt er. Und doch, die Strafkammer des Hamburger Oberlandesgerichts hat viele Teile des Puzzles so zusammengesetzt, dass sich ein überzeugendes Bild der tragischen Ereignisse von Hamburg-Jenfeld ergibt.Jessica war zwar ein ungewolltes Kind, die Mutter hatte versucht, es selbst abzutreiben, aber als ihr das nicht gelang, die Geburt "hingenommen". Damals hatte Marlies S. bereits ihre drei erstgeborenen Kinder zur Adoption freigegeben oder ihrem Ex-Ehemann überlassen, der im Prozess aussagte, sie sei nicht in der Lage gewesen, für die Kinder zu sorgen. Nach der Geburt von Jessica im August 1997 zog Marlies S. in die Männerwohngemeinschaft, in der ihr neuer Partner damals lebte. Dort entwickelte sich Jessica zunächst altersgemäß. "Sie war ein aufgewecktes, fröhliches Kind", sagt der Richter. Sie hatte Spielzeug, konnte laufen und bekam genug zu essen, die Eltern lebten in einem intakten sozialen Umfeld.Allerdings gab es bereits unheilvolle Vorzeichen. Noch im Alter von drei Jahren musste Jessica gefüttert werden. Aber dennoch, die Zeugen gaben zu Protokoll, was in diesem Verfahren, in dem doch kaum etwas normal erscheint, immer wieder zu hören war: "Es war alles ganz normal." Dann zogen die Eltern nach Jenfeld um, und mit dem Umzug, so schildert es der Richter, begann das Unheil: "Der Zug ins Verhängnis kam langsam in Fahrt."In Jenfeld, wo die Angeklagten anfangs niemanden kannten, wurde ihnen das Kind offenbar lästig. Es bleibt unklar, wann der Plan entstand, Jessica sterben zu lassen, aber dass es einen solchen Plan gab, daran lässt das Gericht keinen Zweifel. Es nimmt Marlies S. und Burkhard M. nicht ab, dass sie sich um das Mädchen gekümmert haben wollen, ja dass sie nicht einmal bemerkt haben wollen, wie die Kleine verkümmerte. Es war ein langsamer, schleichender Prozess. Auch das Hamburger Gericht kann nicht klären, wann genau er begann. Ab wann die Eltern Jessicas Zimmer verriegelten und verdunkelten. Ab wann sie ihrer Tochter nur noch selten zu essen und zu trinken gaben, bis sie den Putz von den Wänden kratzte und die Fäden ihrer Wolldecke schluckte. "Wir sind aber sicher, dass die beiden genau wussten, was sie taten", sagt der Richter.Der letzte Außenstehende, der Jessica lebend sah, war ihr Patenonkel. Der besuchte die Familie im Jahr 2003. Damals sei das Kind schon sehr dünn gewesen und habe sich ängstlich an ihren Vater geschmiegt, hat der Patenonkel gesagt. Er war wohl Zeuge einer der wenigen Momente menschlicher Wärme, die das Kind erfuhr. Jessica, die sonst, wie der Richter ausführt, jeden Tag erleben musste, "dass die eigenen Eltern es sind, die das Licht verdunkeln und ihm nichts zu essen geben".Jessica, von deren Leid weder Nachbarn noch Behörden etwas bemerkt hatten, durchlitt vor ihrem Tod einem Gutachten zufolge ein unvorstellbares Martyrium: Infolge einer Nierenentzündung und Kotsteinen im Darm hatte sie große Schmerzen. Die Siebenjährige konnte sich nur krabbelnd fortbewegen, weil ihre Knochen durch die Mangelernährung wie aus Glas waren. "Bis zu ihrem Tod war Jessica bewusstseinsklar, ihr war deutlich, was mit ihr geschah", sagt Schaberg. Zur körperlichen sei die seelische Folter gekommen. "Die Katze durfte fressen, Jessica musste hungern. Die Katze durfte sich frei bewegen, Jessica war eingesperrt."Spätestens seit dem Januar 2004 ließen die Angeklagten niemanden mehr in ihre hübsch eingerichtete Wohnung. "Sie hatten Angst, dass jemand hinter ihre Fassade gucken könnte", sagt der Richter. Er hat überzeugende Beweise für ihre Schuld gesammelt und weist auf gravierende Widersprüche in ihren Aussagen hin. Dass Marlies S. sagte, sie habe Angst vor Ärzten gehabt, aber mit ihrem Mann ins Krankenhaus ging und auch im Gefängnis keine Furcht vor dem Arzt zeigte. Dass sie behauptete, keine Fotos mehr von Jessica zu haben, weil ihre Kamera kaputt war, es aber zahlreiche Fotos von der Katze gibt. Dass Burkhard M. einerseits aussagte, er habe Jessica seit Monaten nicht mehr gesehen, andererseits aber sagte, dass sie schon seit Wochen so abgemagert gewesen sei wie bei ihrem Tod und ihre Kleider so verschnürt waren, dass sie nur mit einer Zange zu öffnen waren. "Er kannte ihr Zimmer sehr genau", sagt der Richter. "Er wusste genau, wie es Jessica ging."Aber wie konnte es zu der unbegreiflichen Tat kommen? Warum wurde Jessica nicht zur Adoption freigegeben? Eine Ahnung von dem Motiv vermittelt Gerhard Schaberg, als er davon spricht, die ungeliebte Tochter sei für Marlies S. in der neuen Wohnung, in der nur noch sie und ihr Partner lebten, zu einer Belastung geworden. Plötzlich fehlte die soziale Kontrolle durch andere Menschen. Marlies S. begann, Jessica zu bekriegen, weil sie die Tochter als eine Bedrohung für ihre Freiheit empfand. Marlies S. reproduzierte das, was sie von ihrer eigenen Mutter erfahren hat. Das Gefühl, dass Kinder Feinde sind. Deshalb hätten die beiden Angeklagten auch jene tödliche Stromfalle eingerichtet, die Jessica dann, vermutlich aus Schwäche, nicht mehr auslösen konnte.Der Richter sagt, es wäre erfreulich, wenn Jessicas tragischer Tod dazu führte, dass die Sozialämter aufmerksamer hinschauten, wie Eltern ihre Kinder behandeln. Vor ein paar Tagen wurden in Berlin und Hamburg neue Fälle verwahrloster Kinder bekannt. Dabei hatte die Stadt nach Jessicas Tod schon zwingend vorgeschrieben, die Sozialämter zu informieren, wenn ein Kind nicht zur Schule erscheint.Der Anwalt Manfred Getzmann sagt, das Urteil sei zu streng. Das Gericht habe zu wenig berücksichtigt, wie sehr seine Mandantin in ihrer Kindheit selbst gequält worden sei. Er sagt, Marlies S. habe das Urteil gefasst aufgenommen. Die Anwältin von Burkhard M. sagt, ihr Mandant sei so gewesen wie immer."Teilnahmslos."------------------------------Fotos (3) :Jessicas Beerdigung am 11. März in Hamburg. Damals stand Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust, hinten links, mit am Grab des Mädchens. Er sagt, dass er das Urteil über die Eltern des Mädchens begrüße. "Wenn jemand seine Kinder sterben und verkommen lässt, muss das Gesetz in aller Härte durchgreifen."Die Eltern: Marlies S., 36, und Burkhard M., 50 Jahre alt.Der Richter: Gerhard Scharberg wirft den Eltern Bösartigkeit vor.