Die Felsenkirchen von Lalibela sind seit 1600 Jahren Ziele von Wallfahrern - doch Pilger sollten schwindelfrei sein: Das zweite Jerusalem
Der Heilige Daniel, war er wohl schwindelfrei? Hatte er die Kraft, dem Sog des Abgrundes zu widerstehen, seinen Blick vom schmalen, viel zu schmalen Sims nach unten gleiten zu lassen, über 400 Meter senkrecht in die Tiefe? Oder hatte er schweißnasse Hände und einem Tremor im Knie wie wir? Dann hätte sich Daniel, der Heilige, eine ganz besondere Prüfung auferlegt. Die Kapelle, in der er gelebt und gebetet haben soll, vor etwa 1600 Jahren, ist in einen Tafelberg gehauen, ein Loch in einer glatten Wand -und der Weg dorthin das Fegefeuer für all jene, die nicht schwindelfrei sind.Über eine Stufe aus Basalt fallen wir ins Innere von Daniels luftiger Eremitage wie in einen Schoß aus Stein, und jetzt endlich blicken wir nach unten: Das Land der Tigray breitet sich dort aus, rotbraune Erde, in der Farbe von gebranntem Ton, durchsetzt mit Schirmakazien und Agaven, mächtigen Feigenbäumen, lehmbedeckten Hütten. Eine Herde Ziegen in der Ferne wie Insekten. Berge, die die Zeit geschleift hat, stumpfe Kegel aus denen kathedralengleich turmhohe Zinnen ragen.Wie von einer Kanzel sah der Heilige hinab auf die Welt, die nicht mehr seine war. "Daniel hat die Erde hinter sich gelassen, um dem Himmel nah zu sein", sagt Aba Tessfaye, und er versteht etwas davon. Auch Aba Tessfaye lebt entrückt von Irdischem -und mitunter in den Wolken. Nur ein paar Meter tiefer als die Kapelle des Heiligen Daniel liegt seine Kirche, auf einem Hochplateau in Äthiopiens Norden, wo gelb die Kakteen blühen: Debre Maryam von Korkor, wo Aba Tessfaye orthodoxer Hohepriester ist und Eremit.Mit 14, als Priesterschüler noch, ist er hierher gezogen. Jetzt ist der Bart auf seinen schwarzen Wangen grau, und die Soutane wird nie mehr weiß wie sie vor Jahren einmal war. "Für mich", sagt Aba Tessfaye, "ist das ein ganzes Leben hier. Für Debre Maryam bin ich nur eine kleine Episode."Auch seine Kirche steht schon seit über 1600 Jahren: von außen wie ein eilig an den Fels geklebter Holzverschlag, doch innen öffnet sich ein erstaunlich weiter Raum, eine dreischiffige Basilika, höhlenartig und organisch, doch voller Symetrie. Bar jeden Prunks ist diese Kirche, da sind nur die blassen Malereien an der Wand, Adam und Eva, mandeläugig, neben einer Schlange. In einer Ecke Weltliches: Feuerzeuge, Wasserflaschen, eine nackte Glühbirne an einem Draht, doch nichts nimmt dem Raum von seiner Erhabenheit.Von Wallfahrern durchschritten ist der Norden Äthiopiens beinahe schon so lange wie es Christen gibt. So wie sich Europas Gläubige aufmachten nach Santiago de Compostela, pilgerten Reisende aus Nahost nach Lalibela, dorthin wo der gleichnamige König nicht weniger erschaffen wollte als ein zweites Jerusalem. Zwölf Kirchen schlug er in den weichen, roten Fels aus Tuff erdwärts in den Boden. Und in den Nischen rund um die Georgs-Kirche liegen noch die mumifizierten Gebeine derer, die von einem Jerusalem ins andere zogen, wo sie starben, nach einem langen Marsch.Sie zogen durch ein Land, das biblisch ist, noch immer. Bauern, die sich ihre strohbedeckten Hütten teilen mit dem Vieh. Ochsen vor Pflugscharen aus Eukalyptusholz, die die harte, rote Erde auf den Terrassen brüchig machen für die nächste Hirsesaat. Barfüßige Hirten, aufrecht, mit federnd stolzem Gang, die Zebu-Rinder über das weite Land treiben.Unser nächstes Ziel: Neakuto Leab, ein Gotteshaus im Schatten eines Tafelbergs, berühmt für seine Quelle, die ein Weihwasser-Becken füllt. Nie ist sie vertrocknet seit dem 13. Jahrhundert. Der Priester zeigt stolz ein wuchtiges Handkreuz: "Ein Geschenk von Kaiser Johannes IV."Seine Kirche kauert sich unter einen Vorsprung und ist halb in den Fels geschlagen. Äthiopiens Gotteshäuser lehnen sich meist an einen Berg. Mal sitzen sie tief im Stein, mal sind sie eine Höhle, und mitunter thronen sie ganz oben, krönen einen Gipfel oder ein Hochplateau wie das berühmte Kloster Debre Damo im staubigen Gebirgsland an der Grenze zu Eritrea.Elf Kilometer sind es von der Piste bis zum Klosterfelsen, eine angemessene Pilger-Stre-cke durch Gestrüpp, wilde Oliven und Wacholder. Am Fuß des Felsens ist Endstation für Frauen. Debre Damo ist eine Männerwelt, und eine uneinnehmbare Insel. Das letzte Wegstück ist eine 16 Meter hohe Wand, glatt und senkrecht. Wer nach oben will, wird in eine Lederschlinge eingebunden, an einem Hanfseil zerren Pries-terschüler die Pilger dann nach oben.An diesem Tag steht Defar oben an der Kante und erklärt den Besuchern die Kloster-Regeln: Keine Schuhe in den Kirchen. Rauchverbot. Fotografiert werden dürfen die Fresken, die Hühner und die Affen, nicht aber die Rinder und die Mönche. "Halt nichts was heilig ist", sagt Defar.Letzte Woche ist er 15 geworden, bald wird er sich zum Priester weihen lassen, später will er für immer oben auf dem Felsen bleiben, wie Daniel, der Heilige. Ein Leben ohne Mädchen, ohne Popmusik, ohne Schokolade oder mal ein Bier? Defar hat keine Zweifel. Steht ganz am Rand des Tafelberges an der Abbruchkante wie an der Reling eines weltentrückten Schiffs, sieht über das weite, hellbraun gescheckte Land hinaus dem Schattenspiel der Wolken zu. "Das ist ein Ort, zu dem so viele pilgern", sagt er. "Und ich bin schon da."------------------------------ServiceReisezeitDie Temperaturen sind vor allem in den Hochlagen durchweg angenehm, im Juli und August ist Regenzeit.PilgerreisenWer auf eigene Faust in Äthiopien pilgern will, sollte viel Zeit und noch viel mehr Abenteuerlust mitbringen. Das Land ist nach wie vor auf Touristen kaum eingestellt. Daher buchen die meisten Gäste bei einem Veranstalter.VeranstalterBei Pineapple Tours 14-Tage-Touren ab 2799 Euro. www.pineapple-tours.deBei Gebeco 16-Tage-Reise ab 2755 Euro. www.gebeco.de------------------------------Karte: Äthiopien------------------------------Foto: In vollem Ornat: Priester von Neakuto------------------------------Foto: Aufstieg zur Kapelle des Heiligen Daniel, die auf einem Hochplateau liegt und einst direkt in den Tafelberg gehauen wurde.