Die Fotografen Arno Fischer und Sibylle Bergemann geben ihr Künstlerdomizil auf: Abschied vom Schiffbauerdamm

Einmal stand Sibylle Bergemann am Fenster und sah einen Mann in der Spree schwimmen. Es war Winter und der Mann ruderte so gequält mit den Armen, dass sie schon einen Rettungswagen rufen wollte, als ihr Ehemann dazu kam und sagte: Ja, bist du denn noch zu bremsen, der will doch abhaun! Sie musste einen Augenblick lang ausgeblendet haben, dass sie von lauter Grenzen umgeben war. Das Fotografenpaar Sibylle Bergemann und Arno Fischer hat aus seiner Wohnung am Schiffbauerdamm jahrelang nur auf Grenzen geguckt. Rechterhand wurden die Lastkähne nach West-Berlin abgefertigt, links kamen die Ost-Berlin-Besucher auf dem Bahnhof Friedrichstraße an. Auch die Spree bildete eine Art Grenzfluss; die gegenüberliegende Seite war zugestellt mit Grenzpolizeibaracken. Und nach hinten raus endete der Bahnsteig, direkt vor dem Küchenfenster. Mitunter hatten sich ein paar Rentner hierher verirrt, die wurden mit erhobenen Händen abgeführt, erinnert sich Sibylle Bergemann. Manches Mal wollten sie sich eine andere Wohnung suchen, aber dann blieben sie doch - 28 Jahre lang. Jetzt müssen sie raus. Das letzte unsanierte Haus dieser Gegend wird auf Hochglanz gebracht.Es ist eine schöne Wohnung. Von außen denkt man das nicht - das Haus hat diesen gräulichen Kieselkratzputz, mit dem der Osten seine Mietshäuser zu verhässlichen pflegte. Aber innen ist Platz: 160 Quadratmeter, darunter drei Salonzimmer mit Stuck, Flügeltüren und Eichenparkett. Das ist Luxus, auch wenn dies einst eine so genannte Ausbauwohnung war, also eine, die von den Mietern erst bewohnbar gemacht werden musste. Vorher hatten sie mit der Tochter in einer Anderthalbzimmerwohnung gelebt, in der auch noch die Dunkelkammer abgeteilt war - da hatten die neuen Räume geradezu Palastformat. Das brauchten sie auch, denn für das Fotografenpaar war die Wohnung nicht einfach ein Zuhause, sondern auch Labor, Archiv, Künstlertreff, Salon und Schule. Arno Fischer, der wichtigste und meist geschätzte Lehrer für Fotografie in der DDR, hatte eine Professur in Leipzig. Die meisten Seminare aber gab er in der Berliner Wohnung, was die Hochschule nur widerstrebend duldete. Nach der Wende trennte sie sich bei erster Gelegenheit von dem großen Lehrer. Fischer nahm eine Gastprofessur in Dortmund an und eröffnete vor drei Jahren mit Sibylle Bergemann, seiner einstigen Schülerin, eine Privatschule: "Fotografie am Schiffbauerdamm". Eigentlich sollte sie in der Wohnung eingerichtet werden, aber als es soweit war, kündigte der Hausbesitzer die Totalsanierung an. Die Schule, nun in der Mauerstraße, hat indessen 100 Schüler, darunter namhafte Fotografen.Von diesen Lehrern ist viel zu lernen, wahrscheinlich tatsächlich nicht weniger als das Sehen an sich. Das Erkennen von Situationen, das Aufspüren von Bildern, das Herstellen von Fotos, die andere nicht machen. Man muss sie wohl abseitig nennen, weil sie immer auf das Unspektakuläre aus sind oder das Besondere des Alltäglichen. Oder, wie es die Fotografin ausdrückt: "Mich interessiert der Rand der Welt, nicht die Mitte. Das Nichtaustauschbare ist für mich von Belang. Wenn etwas nicht ganz stimmt in den Gesichtern oder Landschaften...." Die Voll-das-Leben-Fotos sollten andere machen, die von den bunten Blättern, früher die Für Dich und die NBI. Für deren Reporter pflegten die Künstler eine stolze Verachtung. Auftragsfotografen! hieß der Vorwurf gegen die, die den Jubel am 1. Mai zuverlässig ablichteten. Arrogante Friedhofsfotografen!, konterten die anderen. Doch die Fotos mit dem melancholischen Grundton waren mitunter von erschütternder Schönheit. Auf dem Küchentisch der Wohnung, die gerade leer geräumt wird, liegt zwischen Tellerstapeln, Fotostapeln und Zeitungsstapeln eine alte "Sibylle", ganz zerfleddert schon, aber die junge, ernste, großäugige Katharina Thalbach auf dem Titel ist noch gut zu erkennen. Ich habe die Zeitschrift 30 Jahre nicht gesehen und kannte doch noch jedes Bild dieser Serie. Wir konnten uns als Studenten nicht satt sehen an diesen Fotos - so stolz, so schlicht, so anrührend, 1974 von Sibylle Bergemann aufgenommen. Sicher, das visuelle Gedächtnis war weniger überreizt damals und konnte besser speichern, dennoch muss es ziemlich beeindruckt gewesen sein. Fischer und Bergemann gehörten zu den stilprägenden Fotografen der "Sibylle". Ihr Anteil an der vernachlässigten ästhetischen Bildung der Zeitschriftenkäufer kann nicht überschätzt werden.Sibylle Bergemann sitzt mit einer Kanne Tee in ihrer Wohnung und macht sich Sorgen. Dass sie es nicht zum Termin schaffen könnte, die Wohnung auszuräumen, zugleich die 40 Fotos für die Finissage mit der ihr eigenen Akribie zu vergrößern, und wohl auch, dass der Abschied von der Wohnung dann doch schwerer fällt als sie sich eingesteht. Es ist für uns das Ende einer Ära, sagt sie vorsichtig. Sicher, hier geht etwas zu Ende - in der nun schon verlassen wirkenden Wohnung tobte doch einst das Leben. Sie war eine Adresse für Feste. "Und wir hatten ein offenes Haus, Besuch war eigentlich immer da", sagt Bergemann. Neben DDR-Künstlern fanden sich hier Henri Cartier-Bresson, Helmut Newton, Robert Frank, Josef Koudelka, Barbara Klemm, Ellen Auerbach ein, um über Fotos zu reden. In dem abgeschotteten Land war das nur möglich durch Fischers enge Kontakte zum Institut Français, dessen Chef ein Fotonarr war. Indessen hat sich Arno Fischer, 77, mit seinem Archiv, mit Enten, Hunden, Vögeln und einer Kuh aufs Land zurückgezogen, nur für die Seminare kommt er nach Berlin. Sibylle Bergemann, 63, will sich weiter eine Stadtwohnung halten. Sie ist Gründungsmitglied der renommierten Agentur Ostkreuz, sie fotografiert viel für Geo - das ist auch für die Künstler unter den Fotografen der Olymp. Sie sagt, sie arbeite eigentlich immer. Nie trifft man sie ohne Kamera, selbst beim Autofahren liegt sie immer griffbereit, es könnte sich ja ein Foto ergeben. Oft hat sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie zu viele Aufträge annimmt, anstatt ihre eigenen Bilder zu machen. Geschäftstüchtig waren beide Künstler nie, aber manchmal, sagt sie, "habe ich auch richtig Geld". 80 Fotos werden jetzt zur Finissage in der Wohnung am Schiffbauerdamm und zwei leeren Nachbarwohnungen ausgestellt, mit den Spuren gelebten Lebens. Dann kommen die Bauarbeiter. Und danach wird die Wohnung vier Mal so viel kosten wie vorher. Sibylle Bergemann will dann nicht mehr hierher passen.------------------------------Finissage // Vom 16. bis 20. April werden am Schiffbauerdamm 12 in drei Wohnungen 80 Fotos von Sibylle Bergemann und Arno Fischer gezeigt: "Finissage - Abschied vom Schiffbauerdamm". Täglich von 14 bis 20 Uhr.------------------------------Foto (3): Blick aus der Wohnung auf die Spree mit den Grenzpolizeibaracken und den Bahnhof Friedrichstraße, 1977Arno Fischer Sibylle Bergemann