Die Hackeschen Höfe werden 100 Jahre alt: Der Mix macht's
Wenn Frank Castorf aus seinem Fenster blickt, dann sieht er auf das Dach der Sophienkirche, etwas weiter weg glänzt die Kuppel der Synagoge. Der Intendant der Berliner Volksbühne genießt diesen Blick, und er mag Orte, wo viel Leben ist, wo es quirlig ist. Deshalb wohnt er gern in seiner Dachgeschosswohnung in den Hackeschen Höfen. Die werden an diesem Wochenende 100 Jahre alt. Die Geschäftsleute, Anwohner, Modedesigner und Gastronomen feiern das Jubiläum am Sonnabend und am Sonntag mit einem großen Hoffest. Bis zu 6 000 Besucher erwarten sie.Die Hackeschen Höfe sind einzigartig - nicht nur in Berlin, sondern deutschlandweit. Zwischen der Rosenthaler Straße und der Sophienstraße in Mitte erstreckt sich ein Geflecht von acht Höfen, die miteinander verbunden sind. Jeder hat seinen eigenen Charme. Geschäftsleute treffen sich hier mittags, um auf den Schank-Terrassen, umrahmt von bunten Klinker-Fassaden im Endellschen Hof, etwas zu besprechen. Und die Touristen ruhen sich in den Cafés bei einem Latte macchiato von den Strapazen ihres City-Programms aus. "Die Hackeschen Höfe sind zentral gelegen und sie zählen zu den beliebtesten Anlaufpunkten bei Berlin-Besuchern", sagt Natascha Kompatzki, Sprecherin der Berlin Torismus Marketing GmbH.So schick kamen die Hackeschen Höfe nicht immer daher. Kurz nach dem Mauerfall waren sie ein typisch Ost-Berliner Sanierungsfall. Viel Lehrstand in den Gewerbeetagen, der Putz bröckelte von dem Denkmal. Gerade dieser morbide Charme aber lockte die Szene an, die Improvisationskünstler und die Kreativen, wie sie sich selbst nennen, die es hassen, wenn etwas wie geleckt aussieht. Das Varieté Chamäleon bot seit 1991 jungen und unbekannten Künstlern die Chance, ihre Shows zu zeigen, es wurde experimentiert. Für Schauspielerin und Sängerin Meret Becker etwa war das Chamäleon ein Sprungbrett. Aber nicht nur Off-Kultur wollte die Agentur New Roses anziehen, die aus dem Verein Gesellschaft Hackesche Höfe hervorging, sondern sie bemühte sich auch um die Modeszene und organisierte 1994 eine dreitägige Modenschau. "Zu der Zeit war das hier ein Schmelztiegel für Kunst, Kultur und Mode", erinnert sich Anja Dau von New Roses.Um so schwerer war es, den neuen Eigentümer Roland Ernst zu überzeugen, dass die Höfe ihren Reiz gerade in der Mischung von Kultur, Gewerbe, Gastronomie und Wohnen haben. Denn Ernst war anfangs "bedrückt und von Depressionen geplagt", wenn er durch die Hackeschen Höfe ging. Nach vielen Diskussionen entschloss er sich doch, diesen Mix zu erhalten und die Höfe bis 1997 zu sanieren. Vor zehn Jahren öffneten die ersten Galeristen, Handwerker, Modedesigner und Wirte ihre neuen Läden, Werkstätten und Restaurants. Das Ernst-Imperium ging später pleite.Die Berliner aber entdeckten die Höfe neu. Sie spürten, dass dort etwas Unverwechselbares gewachsen ist, dass es keinen Ramsch und keine Massenware gibt. Und sie spürten das Gemeinschaftsgefühl der Geschäftsleute. "Wir haben zusammen viele Shows und Aktionen gemacht", sagt die Modedesignerin Elisabeth Prantner. Ein solches Gefüge mit Kunst, Kultur und Mode gebe es in keiner anderen Metropole in Europa, sagt sie.Seit der Jahrtausendwende jedoch bleiben viele Berliner weg, die Höfe haben für sie den Reiz des Neuen verloren, zu viel Trubel, zu viele Besucher-Gruppen, die oft im Minutentakt durch die engen Höfe geschleust werden. Dass oft nur noch Touristen kommen, sieht das Chamäleon mit etwas Sorge. Denn Touristen entscheiden sich nur spontan für einen Besuch, die Shows seien aber auch für die Berliner interessant, sagt Sprecherin Anke Politz. Zum Glück habe man noch "viele Berliner Stammgäste". Und was mag sie an den Höfen? "Hier gibt es eine schöne Nachbarschaft mit Böll-Stiftung, Kino und den Gaststätten, wo man sich gegenseitig ergänzt."Die Ladenbesitzer sehen das kritischer. In den Höfen sei der Zusammenhalt nicht mehr so groß, viele Geschäftsleute seien nur noch mit sich selbst und ihrer finanziellen Lage beschäftigt, sagen sie. Deshalb sei auch der Gemeinschaftsgedanke verloren gegangen. Zudem haben die Höfe in diesem Jahr einige namhafte Mieter verloren. Die Galerie Aedes und die Galerie Leo Coppi sind nach zehn erfolgreichen Jahren ausgezogen, weil sie der Galerieszene in der August- und Linienstraße näher sein wollten. Auch die kleine Druckerei gibt es nicht mehr, viele Läden haben den Besitzer gewechselt. "Ich wollte hier immer mal einen Laden mit Mode für Männer reinhaben, das ist mir bislang aber nicht gelungen", sagt Hofmanager David S. Kastner. Trotz Eigentümerwechsel - die Höfe sind im Privatbesitz einer Berliner Familie - soll sich am Konzept für die Höfe nichts ändern. Die Läden müssen inhabergeführt und die Produkte in den Höfen hergestellt, erdacht oder weiterverarbeitet sein. Ausnahmen gibt es nur an der Rosenthaler Straße. Dort ist das Starbucks Coffee House einer der Großmieter, nebenan hat der Sportartikel-Hersteller Puma im Frühjahr einen Store eröffnet.Intendant Castorf sieht darin kein Problem, denn die Mischung in den Höfen ist ja trotzdem noch da. "Bewegung unter den Händlern ist doch gut. Hauptsache, es steht nichts leer."------------------------------Wohnen und werkelnFriedrich der Große beauftragte 1750 seinen Stadtkommandanten Hans Christoph Graf von Hacke - nach ihm wurde der Hackesche Markt benannt - mit der Stadterweiterung im Gebiet der heutigen Spandauer Vorstadt. Schon zuvor gab es in dem Viertel den jüdischen Friedhof, der 1672 entstand.Als Vorläufer der Hackeschen Höfe ließ der Glasfabrikant Hans Quilitz ab 1859 auf dem Grundstück Rosenthaler Straße 40 zahlreiche Bauten errichten. Seine Erben kauften 1905 die Grundstücke Rosenthaler Straße 41 und Sophienstraße 6 dazu. Es entstand ein zusammenhängendes Grundstück von 9 200 Quadratmeter Fläche. Die Erben ließen alle Gebäude abreißen und begannen mit dem Bau der Hackeschen Höfe.Errichtet wurden die Höfe bis 1906/07 von Architekt Kurt Berndt und dessen Baugesellschaft. Ziel war es, eine Mischnutzung mit Gewerbe, Wohnen und Kultur zu etablieren. So entstanden 16 000 Quadratmeter Gewerbefläche sowie 80 Zwei- bis Fünf-Zimmer-Wohnungen auf weiteren 8 000 Quadratmetern. Die Wohnungen verfügten über Badezimmer, Innentoiletten, Parkettböden und Stuckdecken. Büros, Wohnungen und Gewerbe wurden zentral beheizt.Architektonisch einmalig ist die Gestaltung des 1. Hofs. Sie wurde dem Jugendstil-Architekten und Philosophen August Endell übertragen. Dieser verzierte die Fassade mit bunten Keramikklinkern. Endell gestaltete auch die beiden Festsäle im 1. Quergebäude (heute Chamäleon Theater und Kino) mit den dazugehörenden Treppenaufgängen, den Kleinen Festsaal sowie das Neumannsche Weinrestaurant. Der Hof diente später jahrzehntelang als Kulisse für Konzerte, Lesungen, Tanz und Feiern.Stichtag für die Eröffnung der Hackeschen Höfe war der 22. September 1906, an dessen Abend das Weinrestaurant Neumann & Söhne (heute Restaurant Hackescher Hof) eingeweiht wurde. Weitere Gewerbemieter waren kleine Fabriken wie Schuhhersteller, Mützenfabrik und Kürschnerei. Zudem wurden dort die ersten Telefonanlagen Berlins hergestellt. Am Hackeschen Markt hatte auch die Commerzbank eine Niederlassung (heute Puma). Der "Film Palast Börse" bespielte die Festsäle im Endellschen Hof.Verkauft wurden die Höfe wegen der drohenden Inflation im Jahr 1920 an eine Grundstücksgesellschaft - die Quilitz-Erben erhielten sieben Millionen Mark. 1924 erwarb der Kaufmann Jakob Michael, zu der Zeit einer der reichsten Männer Deutschlands, die Höfe.Jakob Michael verließ 1932 aufgrund antisemitischer Repressalien Deutschland. Die Höfe wurden unter Zwangsverwaltung gestellt. 1938 wurde Michael die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, sein Vermögen wurde enteignet, die Höfe 1940 versteigert. Den Zuschlag erhielt die Emil Köster AG, ein Hauptmieter in den Höfen. Die Aktien an der AG hielt ein Amerikaner, der wiederum im Auftrag von Jakob Michael handelte. Michael hatte seit 1926 in die Köster AG investiert und bis 1940 eine Mehrheit erlangt.Laut Volkszählung 1939 lebten in den Hackeschen Höfen 179 jüdische Menschen. Bis 1943 wurden alle in Vernichtungslager verschleppt, nur 11 von ihnen überlebten den Holocaust. Von den ursprünglichen Bewohnern konnten nachweislich 15 emigrieren.Der Emil Köster AG wurde 1946 die Verfügungsgewalt über die Höfe entzogen, 1949 folgte die Gesamtenteignung des Unternehmens, drei Jahre später wurden die Höfe zu DDR-Volkseigentum erklärt.Von der DDR wurden viele Gewerbeflächen mit Probebühnen, Werkstätten und der Verwaltung des Fernseh-Tanzensembles belegt. Unternehmen wie VEB Herrenbekleidung und VEB Kühlanlagenbau waren ansässig. In der heutigen Gaststätte Oxymoron befand sich eine Werkstatt für das Volksauto Trabant. Einziger Kulturort war der Sophienclub. Nach dem Mauerfall 1989 wurden viele Unternehmen aufgelöst oder abgewickelt.Die Wohnungsbaugesellschaft Mitte übernahm 1990 die Verwaltung der Höfe. Ab 1991 etablierte sich dort das Varieté Chamäleon, Modedesigner ließen sich nieder. Die Gesellschaft Hackesche Höfe e.V. entwickelte zu dieser Zeit eigene Ideen zur denkmalgerechten Sanierung der Höfe sowie ein Betreiberkonzept.1993 wurde den Michael-Erben das Grundstück rückübertragen, ein Jahr später kauften die Unternehmer Roland Ernst und Rainer Behne die Höfe. Bis 1997 wurden die Höfe für umgerechnet 50 Millionen Euro behutsam und denkmalgerecht rekonstruiert, um dort wieder eine Mischnutzung aus Arbeiten, Wohnen, Kultur und Gewerbe zu etablieren. Sämtliche Leitungen und Fassaden wurden erneuert, Dachgeschosse ausgebaut. Dort entstanden 23 weitere Wohnungen sowie zusätzliche Büroflächen. Die acht Wohn- und Gewerbehöfe sind begehbar, ab 22 Uhr sind sie abgeschlossen, um die Privatsphäre der Mieter zu schützen.Mit der Insolvenz von Roland Ernst übernahm zunächst die Deutsche Real Estate aus Hamburg die Hackeschen Höfe, 2004 wurden sie für etwa 80 Millionen Euro an einen Privateigentümer aus Berlin verkauft, der in der Öffentlichkeit nicht genannt werden möchte.------------------------------DIE MIETEREndellscher Hof - Der Hof I ist wegen seiner bunten Fassade der schönste der acht Höfe. Im Dachgeschoss des Vorderhauses hat die Heinrich-Böll-Stiftung ihren Sitz. Im Erdgeschoss gibt es vor allem Gastronomie: das Restaurant Hackescher Hof, Starbucks Coffee House, das Club-Restaurant Oxymoron sowie das Bistro Anatré. In dem Hof befinden sich auch die Zugänge zum Chamäleon Theater sowie zum Kino. Zum Jubiläum wird der Hof mit einem Netz überspannt, unter dem sich 12 000 Luftballons sammeln sollen, sie steigen jeweils abends in den Himmel.Theater-Hof - Der Hof II ist eigentlich der Bürohof. Hier befinden sich die Zugänge zu den Lofts, die unter anderem von Planungsbüros, Produktionsfirmen und bekannten Berliner Architekturbüros wie nps Tchoban Voss sowie Diener und Diener genutzt werden. Im Untergeschoss gibt es eine Probebühne für das Chamäleon. Außerdem sind in Läden die Buchhandlung Artificium sowie das Geschäft berlinerklamotten ansässig.Kunst-Hof - er zählt schon zu den Wohnhöfen, in den Erdgeschossen hat sich unter anderem das Modegeschäft Strenesse eingerichtet.Brunnen-Hof - er bietet mit seinem Brunnen in der Mitte und dem schief wachsenden Baum eine einzigartige Atmosphäre. Besser wäre, ihn Modehof zu nennen. Denn dort haben die meisten Designerinnen in den Höfen ihre Geschäfte, darunter Jordan, Quasi Moda, Lisa D., arrey kono und thatchers. Dort sind auch Trippen-Schuhe und das Schmuckwerk ansässig.Kastanien-Hof - Touristen werden vom Geschäft Ampelmann-Galerie-Shop angezogen. Dort erhält man einen kleinen Einblick in die Geschichte des Ampelmännchens, das mal Rot mal Grün in Berlin auf vielen Fußgängerampeln zu sehen ist.Sophien-Hof - durch den Hof gelangt man zur Sophienstraße. Nach ihr hat sich auch der legendäre Sophienclub benannt, der in der DDR die einzige Kultureinrichtung in den Höfen war. Ansässig sind hier auch der Billardsalon Köh und die Tanzetage. Ein weiterer Durchgang führt in die benachbarten Rosenhöfe.Handwerker-Hof - ihn trennt eine hohe Mauer vom benachbarten Grundstück der Sophienkirche. Wie der Name sagt, sind in dem Hof vor allem Handwerker wie Elektro-Bartsch ansässig. Dort gibt es auch das Tabularium, eine Fundgrube vor allem für Fans von altem Spielzeug wie Brettspielen und Steiff-Teddys.Mode-Design-Hof - hier findet sich mit dem Wunderbild eine der letzten Galerien in den Hackeschen Höfen. Sie produziert und vertreibt moderne und zeitgenössische Malerei, Fotokunst und Skulpturen. Ansässig sind dort weitere Modedesigner.------------------------------FESTPROGRAMMSONNABENDDas Hoffest beginnt um 14 Uhr. Die Heinrich-Böll Stiftung öffnet bereits ab 12 Uhr zu einem Tag der offenen Tür. Sie veranstaltet um 16.30 Uhr eine Podiumsdiskussion zum Thema Stadtentwicklung.Im Hof I können sich Interessierte die Räume des Chamäleon Theaters ansehen, dort bietet auch die Staatliche Artistenschule Shows (14.30 Uhr, 15.30 Uhr). Das Kino zeigt am Nachmittag Kurzfilme, um 18.30 Uhr wird eine Digitalfassung der Modeshow gezeigt, die während des Festes in Hof IV läuft.Im Hof II präsentiert das Chamäleon auf einer Bühne Ausschnitte aus seiner neuen Show Caesar Twins (14 Uhr, 18.30 Uhr). Die Artistenschule tritt um 16 Uhr auf. Dazwischen gibt es unter anderem Talks der Böll-Stiftung.Der Hof IV wird zu einem Catwalk - beiderseits des Brunnens gibt es Laufstege, auf denen die Designer der Höfe ihre Mode präsentieren. Berlinklamotten - für das Geschäft entwerfen 140 junge Designer aus Berlin Mode und verkaufen sie dort - tritt 15.30 Uhr auf. 16.30 Uhr folgt eine Modeshow von Puma, 17.30 Uhr zeigen sieben Modedesigner der Höfe ihre Show. 19.30 gibt es ein gemeinsames Programm von Caesar Twins und den Modedesignern. Ende gegen 20 Uhr.SONNTAGProgramm in den Höfen gibt es ab 12 Uhr. In Hof I zeigt das Kino ab 12.30 Uhr Kurzfilme. Um 15.15 Uhr läuft der Streifen "In weiter Ferne so nah".In Hof II präsentiert das Chamäleon wieder die Show Caesar Twins (12 Uhr, 17 Uhr), die Artistik-Show von Die Etage läuft 13.10 Uhr, 14.30 Uhr, 16 Uhr. Dazwischen gibt es mehrere Talkrunden etwa zum Programm des Kinos oder zur Filmlandschaft.In Hof IV zeigt Puma um 13.30 Uhr seine Modeshow. Die sieben Hof-Designer sind 15.30 Uhr und 17.30 Uhr dran, sie präsentieren ihre Kollektionen. Ende des Festes gegen 18 Uhr.------------------------------"Ich wohne gern in den Hackeschen Höfen. Es ist grün und die Kinder können spielen. Und ich mag Orte, wo viel Leben ist." Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne------------------------------Foto: Attraktion für Touristen - der Jugendstilhof von Architekt August Endell. Die bunten Klinkerfassaden wurden während der Sanierung erneuert.------------------------------Foto: Eröffnung der Hackeschen Höfe 1906 - das Weinrestaurant Neumann & Söhne.------------------------------Foto: Bis 1990 gab es in den Höfen eine Werkstatt für das DDR-Volksauto Trabant.------------------------------Grafik: (4)