Die Spur der Steine

Berlin - Bei D geht es rein. D wie Dresden ist eine von sieben Pforten der Frauenkirche, die offen steht, wenn nicht gerade Gottesdienste, Taufen, Konzerte oder Abendandachten stattfinden. Wenn die Touristen kommen und den immergleichen Einkehrschwung vornehmen: den Mittelgang hinunter in Richtung Altar, rechtwinkliges Abbiegen an den Bankreihen entlang, dann dem Ausgang entgegen. Zwischen Rein und Raus liegen unterschiedliche Schulen des Schauens: Die einen legen den Kopf weit in den Nacken, um das Deckengemälde in 26 Metern Höhe zu studieren. Die anderen gucken verstohlen umher, ob sie nicht doch heimlich Fotos machen können, was in einem Gotteshaus wie diesem traditionell unerwünscht ist. Die gerade recht zahlreich versammelten Japaner halten sich dran und sind ein wenig unglücklich, ohne digitale Beweisstücke scheiden zu müssen von dieser Station ihrer zwei Wochen in Europa; die deutschen Touristen machen trotzdem ihre Aufnahmen aus den Bankreihen heraus.

Fräulein Kerstin, die Stadtführerin, deren Lidstrich sich wie ein optimistisches Häkchen nach oben schwingt, teilt sich die Besucherscharen anders ein. Die älteren Herrschaften, sagt sie, fänden die wiederaufgebaute Frauenkirche immer einfach nur - toll! Weil sie nicht unbedingt damit gerechnet haben, sie so noch einmal sehen zu können in ihrem Leben. Die barocke Kirche mit der hohen steinernen Kuppel war im Februar 1945 beim Bombardement Dresdens ausgebrannt und eingestürzt, die Reste der Außenwände wurden mitsamt des überwucherten Trümmerberges zum Mahnmal gegen Krieg und Zerstörung - was, wie viele glaubten, nachdrücklicher in der Wirkung sei als ihr Wiederaufbau, der 1990 beschlossen wurde.

Pracht und Macht

Die andere Hälfte, erzählt Fräulein Kerstin, also die Kulturtouristen, die Städtereisenden, die sieht diese Rekonstruktion aus Ruinen mit etwas anderen Augen. Wer beispielsweise den Barock in seiner morbiden Form in Italien lieben gelernt hat, der kommt hier unter Umständen raus und findet, was er drinnen gesehen hat, irgendwie, pardon, kitschig. Fräulein Kerstin sagt: "Ich dachte auch erst: Was für eine Bonbondose!" Innen dominieren Rosarot, Himmelblau, Pfefferminzgrün, üppig sind Marmorierungen aufgemalt und verschwenderisch goldene Effekte aufgetragen, wie in einem Opernhaus und ohne jede Patina, die das Grelle minderte. Der Wiederaufbau war 2005 vollendet. Man sieht die Kirche so, wie sie vor fast dreihundert Jahren einmal ausgesehen haben kann, sagen die einen. Die Frauenkirche sei ein historisierender Mantel über einem Neubau, sagen die anderen.

Wie auch immer, was für ein seltener Beweis großer Prachtentfaltung im Protestantismus. Das passt zu dem, unter dessen Regentschaft der Bau 1726 begonnen worden war: So, wie der Kurfürst von Sachsen, August der Starke, sich auszustaffieren pflegte - gern etwa mit handtellergroßen Diamantbroschen an der Perücke -, so ließ er auch die zahlreich in seiner Ära entstandene Architektur Dresdens ausstatten. Barock, sagt Fräulein Kerstin, wenn sie im Dienst ist, "heißt in diesem Fall eben, dass man es hat rocken lassen".

Zwei Millionen Besucher gucken sich das Jahr für Jahr an. Dem Deutschen Tourismusverband zufolge liegt die Frauenkirche auf dem zweiten Platz der Hitliste deutscher Sehenswürdigkeiten. Hätte sie nicht gedacht, sagt Fräulein Kerstin, Dresden sei doch nicht gerade hip, sondern eher schnarchig. Seit 1999 macht sie nun schon Stadtführungen, zuvor wirkte sie in einer "Mischerwerbsform" als DJ und Kellnerin. Mit den Führungen wurde sie zum Fräulein, ein Alleinstellungsmerkmal, das auf charmanten Eigensinn verweist. Eigentlich heißt sie Kerstin Klauer, durch Heirat ist noch ein Hartmann hinter dem Bindestrich dazugekommen. Als Frau Klauer wollte sie gar nicht erst anfangen in diesem Job, auch wenn das "Fräulein" sie schon um den einen oder anderen Auftrag emanzipierter Frauen gebracht hat. Macht ihr gar nichts. "Ich setze eben", sagt sie, "ein Zeichen gegen die Ausrottung dieses Wortes."

Zwei Führungen pro Tag

Fräulein Kerstin, 41, trägt Adidas-Turnschuhe zum schwingenden Rock und die Strickjacke eng gegürtet, alles in Blautönen, der Rucksack ebenfalls, der die Hände freihält zum Zeigen und Ausbreiten des gesamten Altstadt-Panoramas: Zwinger, Residenzschloss, hier die noch fast jugendlich zu nennende Kunstakademie, erbaut Ende des 19. Jahrhundert und wegen ihres geriffelten Glasdaches auch die "Zitronenpresse" genannt. Da die Hofkirche, eine katholische Kirche im protestantischen Land, ungefähr zeitgleich mit der Frauenkirche errichtet, die 78 Heiligenfiguren stehen an den Balustraden des Daches wie VIP-Gäste auf einem Kreuzfahrtschiff.

Zwei Führungen pro Tag sind ihr Durchschnitt, der Sonntag soll frei bleiben für Fräulein Kerstin. An diesem Tag startet sie, den Taschenschirm fest unter den Arm geklemmt, mit einer zehnköpfigen Gruppe aus dem Kölner Raum, einer im Übrigen archetypischen Gruppe: Die inländischen Besucher Dresdens sind grundsätzlich eher nicht mehr im Interrail-Reisealter und treten bevorzugt paarweise auf, sie sind in jenem Alter, in dem die Kinder bereits aus dem Haus sind.

Meistens kommen ihre Kunden aus dem Westen, sagt Fräulein Kerstin, die haben da ja schließlich Nachholbedarf. Das allerdings mitunter auch bei der Frage, wer denn all diese Instandsetzungen links der Elbe bezahlt hat. "Wir?", fragt der Westler dann gerne mal, "wir mit unserem Soli-Zuschlag?" Der Dresdener wird dann beispielhalber darauf hinweisen, dass die ebenfalls im Krieg zerstörte Semperoper bereits von 1977 bis 1985 von der DDR-Regierung rekonstruiert worden sei. Und dass Marmorsäulen und Eichenholz-Kassettierungen darin nicht deshalb aus Gips seien, weil man kein Geld gehabt hätte, im Gegenteil. Echter Marmor und echtes Eichenholz wären sehr viel günstiger gekommen als die handbemalten Attrappen, aber es sollte eben originalgetreu sein. Weshalb für die Innenraumbemalung der Frauenkirche später so lange experimentiert wurde, bis klar war, dass den Farbpigmenten Nelkenöl, Salmiakgeist und getrockneter Quark beigefügt werden müssten. Und Eier, für deren Frischhaltung eigens ein Kühlschrank gen Kuppel gehievt wurde.

Gruppen aus dem Westen mögen den Lokalkolorit

Wenn sie gerade keine Führung hat, nutzt Fräulein Kerstin seltener das "Nu", dieses sächsische Universalwort, das "einverstanden", "ja", "gern", "gut", "vielleicht" bedeutet oder ein Zeichen stillen Behagens an der Gegenwart sein kann. Aber die Gruppen aus dem Westen mögen den Lokalkolorit. Obwohl, wie das Institut für Deutsche Sprache immer mal wieder herausfindet, Sächsisch als unbeliebtester unter den deutschen Dialekten gilt. Vermutlich, sagt Fräulein Kerstin, weil so viele Grenzbeamte zu DDR-Zeiten in Sachsen rekrutiert wurden und so viele Westler mit diesem Zungenschlag unfreundliche Anweisungen verbinden. Sie treibt die Ehrenrettung geschmähter Dialekte noch weiter, wenn man sie nach ihrer Kundschaft fragt und erfährt: "Am großzügigsten sind die Schwaben."

Zwei Stunden dauert bei ihr in jedem Fall eine Tour durch die historische Altstadt, die im Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleich gemacht worden war. Das meiste ist wiederauferstanden. Die auf engem Raum zusammengerückten Solitäre des Großen Kurfürsten bilden das, was die Dresdener ihr "barockes Freilufttheater" nennen: eine Stadtkulisse, deren Panorama weltberühmt ist.

Nach einer Stunde Führung nimmt der Nachdruck, die Gruppe am Hinsetzen zu hindern und zu einer Gangart jenseits des Schlenderns zu bewegen, deutlich zu. An dieser Stelle flicht Fräulein Kerstin gern ein, dass August dem Starken - dem entschiedensten Vertreter absolutistischer Prachtentfaltung außerhalb Frankreichs -, mehr als 350 Kinder angedichtet wurden, allerdings ist nur ein einziges davon verbrieft ehelich und nach Art des Hauses entstanden. Das sind Geschichten, die der nicht mehr ganz junge Städtetourist gerne hört. Gutgefönte Frauen in praktischer Kleidung stoßen ihre Gatten in die Seiten, was erneut für Gelächter sorgt. Regional, sagt Fräulein Kerstin mit Blick auf mächtige Männerbäuche, spräche man auch vom durchtrainierten Feinkostmuskel.

Ideale Stadtlandschaften

Draußen werden gerade Stände für Roster und Radeberger, für Bratwurst und Bier also aufgebaut, zum Stadtfest, das abends beginnt. Es ist wieder kein Tag geworden, an dem Maler das Panorama von Dresden in Veduten verewigen müssten. Nur kurz nimmt der Horizont ein intensives Veilchenblau an, in dem bereits die Drohung kommender Unwetter steckt. Zunächst aber zieht sich der Himmel zu einem farblosen Ton zusammen, den man vielleicht Gerhard-Richter-Grau nennen könnte.

Richter, der teuerste lebende Maler Deutschlands wurde in Dresden geboren, mit seinen Gemälden wurden zwei Säle des Albertinums bestückt, Leihgaben allesamt. Und auch das vielleicht berühmteste Kunstwerk der Stadt ist ab diesem Wochenende wieder frisch aufgearbeitet in der Gemäldegalerie Alter Meister zu sehen, "Dresden vom rechten Elbufer unterhalb der Augustusbrücke" (1748) von Bernardo Bellotto, genannt Canaletto. Seine Veduten zeigen reale und zugleich ideale Stadtlandschaften - nach detaillierten Zeichnungen effektvoll zusammengeschoben wie ein Bühnenbild bei Hofe.

Über dem "Canaletto-Blick" liegt ein lichtes, kühles, durchscheinendes Blau, ein bisschen wie aus Glas - wie es für Dresden so typisch ist. Doch selbst der tristeste Himmel von heute verleiht dem in dieser Stadt bevorzugten Baumaterial immer noch mehr Tiefe und Konturenschärfe, lässt in feinen Nuancen zwischen Beige, Oliv und Schwarz das Alter des Sandsteins erkennen, der seit Jahrhunderten ganz in der Nähe, in der Sächsischen Schweiz, gebrochen wird. Zeit für Fräulein Kerstin, mal wieder eine der am häufigsten gestellten Fragen bei ihren Rundgängen vorwegzunehmen: Nein, wenn der Stein dunkel geworden ist, liegt das nicht an der Umweltverschmutzung in der DDR. Nein, auch nicht an den Trabi-Abgasen. Der sächsische Sandstein enthält ferritische Pigmente, Eisenoxide, die sich im Laufe der Zeit an der Oberfläche ablagern.

Postkarten der Zukunft

Im Falle der mitsamt Turmkreuz 91,23 Meter messenden Frauenkirche ist deshalb ein wildes Mosaik entstanden - Flickwerk, das zwar auch millimetergenau gesetzt ist, aber in seinem Respekt vor der Geschichte der Steine sehr viel eindrucksvoller wirkt als die Perfektion des klimatisierten, isolierten und optimal befeuchteten Innenraums: 43 Prozent der Quader, rund dreieinhalbtausend, sind vom Trümmerberg geborgen worden und konnten wieder verwendet werden. Was dunkel ist, ist alt. Was hell ist, ist neu. Alt und neu wird irgendwann wieder zu einer Kirche zusammenwachsen. Fräulein Kerstin zeigt tiefenscharfe alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen des noch nicht kriegszerstörten Baus herum und sagt: "Das sind die Postkarten der Zukunft."

Allerdings wird es dauern, bis der Sandstein wieder so einheitlich und dramatisch düster ist, zirka sechzig, achtzig Jahre. Man hat ja Zeit hier. Bis dahin kann man sich noch überlegen, wie man mit der Moderne umgeht. Und ob man sie auf dem Areal der Altstadt weiterhin verstecken muss hinter "historisch detailgetreu errichteten Fassaden", wie die Bauträger werben. Acht Quartiere sind an der Frauenkirche neu entstanden, zwischen den Höfen liegen gesichtslose, edel gemeinte Passagen mit Glas, Stahl und poliertem Stein.

Wie ein Familientreffen

Fräulein Kerstin lebt in der Äußeren Neustadt, einem Viertel, das sich wegen der Gründerzeitarchitektur und einem umfangreichen Angebot zur aushäusigen Abendgestaltung vage mit dem Prenzlauer Berg vergleichen lässt, auch hinsichtlich rapide steigender Mieten, weil auch die Betuchteren dort gern schön wohnen wollen. In die Quartiere der inneren Altstadt zieht es die Menschen eher nicht, da kleben "Zu Vermieten"-Schilder an hohen, leeren Fenstern. Die Preisvorstellungen dort sind etwa so wie in München, weshalb diese Wohnungen in Dresden kaum einer bezahlen kann. Trotzdem entstehen zwischen Frauenkirche und Residenzschloss schon wieder die nächsten "exklusiven Eigentumswohnungen". Als barocke Kulisse, nicht im Sinne einer lebendigen Stadt, die weiterwächst über die Epochen.

Aber auch die Frauenkirche ist hervorgegangen aus einem gotischen Vorgängerbau, der wiederum auf die kleine romanische Kirche Unserer Lieben Frau zurückgeht. So sollte es sein, sagt Fräulein Kerstin: Eine Stadt muss sein wie ein Familientreffen, bei dem vom Enkel bis zur Uroma jeder dabei ist.

Berliner Zeitung, 27.08.2011