Die Stadt des Autors
Am Freitagabend, als die Fans von Schalke 04 lautstark den Kurfürstendamm rauf und runter zogen und die Riesensittiche in den Volieren am Kranzlereck die ganze Nacht aus vollen Kehlen mitkreischten ob des ungewohnten Lärms, gedachte die Stadt mal wieder ihres Schriftstellers Alfred Döblin. Die Alfred-Döblin-Gesellschaft hatte tagsüber colloquiert, am Abend wurde im Literaturhaus in der Fasanenstraße eine kleine Döblin-Ausstellung eröffnet, während um die Ecke die Kellnerinnen es allmählich aufgaben, die Tabletts um die schwankenden Fans zu manövrieren, die die Arme in die Höhe reckten und nach Schalke riefen. Ein Polizeiwagen fuhr vor, stellte sich an den Straßenrand, und man beobachtete die Sache.Drinnen, im Literaturhaus, konnte man erleben, wie der Ruhm eines Mannes an den Rändern ausfranst. Der Kultursenator war eigens gekommen, eine erkleckliche Anzahl von Döblin-Forschern und die drei verbliebenen Söhne des Dichters: Claude Döblin, Stefan Döblin und Bodo Kunke. Der Chef des Literaturhauses freute sich, weil die drei Brüder, inzwischen auch weit in den Achtzigern, so einträchtig ne- beneinander saßen, und der Kultursenator freute sich, weil ihr Vater mit dem Roman "Berlin Alexanderplatz" dieses einmalige, noch immer werbewirksame Hohelied auf die Stadt geschaffen hatte. "Die Stadt mit dem Möglichkeitssinn" sagte er, obwohl das Wort doch von Döblins Konkurrenten Musil stammt. Dass die Stadt ihrem emigrierten Sohn zur Heimkehr nach dem Krieg die kalte Schulter zeigte, weil er in einer französischen Siegeruniform herumstolzierte, sagte er nicht. Auch nicht, dass Döblin 1953, inzwischen in Mainz wohnend, getreu seinem Motto "Man muss nicht seinen Charakter, man kann auch die Stadt wechseln", 1953 ein zweites Mal nach Paris emigrierte. Dafür erzählte Claude Döblin umso mehr. Fast eineinhalb Stunden lang berichtete er von der inzwischen in alle Welt verstreuten Familie. Claude Döblin liebte seine Mutter über alles; zur Korrektur der Wissenschaft, die die Bedeutung der langjährigen Geliebten Döblins, Yolla Niclas, überschätze, verlas er einen Liebes- und Reuebrief des Schriftstellers an seine Frau Erna. "Meine Mutter war sehr hübsch, viel schöner als Yolla Niclas", sagte der alte Mann, den die Affäre, 44 Jahre nach dem Tod der Eltern, noch immer zu schmerzen scheint. Allmählich dämmerte es dem Publikum, warum Claude Döblin anfangs von nur zwei noch lebenden Brüdern gesprochen hatte, obwohl doch drei dort vorn in der ersten Reihe vorgestellt worden waren. Claude rechnete nur die Söhne Ernas mit; Bodo Kunke, erklärte er, sei hingegen "die Frucht der Beziehung mit einer Krankenschwester". Dennoch habe die Familie rührend versucht, das uneheliche Kind aufzunehmen, so wie er selbst sich um Bodos Sohn bemüht habe. Dieser fühlte sich zur allgemeinen Überraschung nun selbst auf den Plan gerufen. In einer kurzen Ansprache verwahrte er sich gegen die "schönfärberischen Darstellungen seines Onkels", die bezüglich der angeblichen Freundlichkeiten gegenüber seinem Vater einen "solchen Hohn" bedeuteten, dass er ihnen kurz und in aller Form widersprechen müsse. Alfred Döblin, ein krawalllustiger Mensch, hätte an der Szene seine Freude gehabt; das Publikum schien pikiert, klatschte aber wegen des Mutes des Familiensprosses. Danach beugte man sich über die 16 Vitrinen. Für den, der an den Werken eines Autors hängt, bedeutet es ein Erlebnis, aufgeschlagene Erstausgaben zu sehen, alte Eintrittskarten zu Lesungen und vergilbte Wochenschriften. Wie Kultursenator Christoph Stölzl jedoch auf die Idee kam, man müsse sogar seine Kinder zum Besuch der Schau bewegen, lässt sich nur mit einem Elan erklären, der umso mehr schäumt, je leerer die Kassen sind. "Wenn es Ihnen gefallen hat, erzählen Sie es weiter", sagte er, und man spürte, die ganze bankrotte Stadt war es, die er zum erneuten Besuch empfahl, nicht ohne die Alfred-Döblin-Gelehrten zu ermahnen, sich nicht wieder in anderen Städten, sondern hier zu versammeln, frühzeitig Hotelzimmer buchend. Draußen fluteten die Fans über den Boulevard, die Sittiche vom Amazonas drängten sich krakeelend auf einem einzigen Zweig zusammen. Hier wäre Alfred Döblin in seinem Element gewesen. "Vom Murren dieser Menschen ist das Tal dieser Straßen erfüllt, von ihrem wonnigen Streifen Arm an Arm, Schulter an Schulter", schrieb er 1918. Und: "Pneumatiks, zum Platzen gebläht, schaukeln den Oberbau leichter Autos, die sich wie ein Einfall nähern."