Die Wurzeln des Tuba-Baumes
Auslandstürken bedürfen oft mehr der nationalen Identität und sind sich ihres Nationalismus' oft weit weniger bewusst als die Türken in der Türkei. So ist es kein Wunder, dass, wann immer ich in den USA oder in Europa aus meinen Büchern lese, es ein paar Türken im Publikum gibt, die mich an meine nationale Pflicht erinnern wollen. Als eine türkische Romanautorin soll ich der westlichen Welt gegenüber ein Symbol der befreiten türkischen Frau sein. Von mir erwartet man, dass ich dem Westen zeige, wie westlich, wie modern und säkularisiert wir Türken sind und wie viel wir Atatürks Reformen verdanken.Offenbar sind einige türkische Leser vor allem daran interessiert, mich an meine heiligen Pflichten zu erinnern: den Westlern zu beweisen, dass türkische Frauen keinen Schleier tragen und dass sie, anders als ihre Schwestern in der muslimischen Welt, nicht vom Islam unterdrückt werden. Ein türkischer Ingenieur in Indianapolis gab mir noch einen anderen Auftrag: "Es ist gut, dass sie uns repräsentieren. So können Amerikaner und Europäer endlich sehen, dass wir Türken nicht wie Araber aussehen!"Ich habe keine dunkle Haut. Ich kann also al Beweis dafür dienen, dass die Türken zu den Indo-Europäern zählen und also nichts mit dem dunklen Rest des Nahen Ostens zu tun haben. Solche rassistischen Auffassungen werden niemals laut geäußert, sie bilden aber eine der fundamentalen Erwartungen einiger meiner Leser unter den Auslandstürken.Mein neueste Buch schrieb ich auf englisch. Das war eine schmerzhafte Herausforderung. Ich schrieb es mit einem instinktiven Widerstand gegen ein phantomschmerzartiges Verlustgefühl. Und doch machte es mir auch Spaß englisch zu schreiben, denn das mir einen größeren Bewegungsspielraum, mehr Platz für Ambivalenzen. Sobald mein Buch in der Türkei erschien wurde ich heftig dafür kritisiert, meine Muttersprache verlassen, Verrat begangen zu haben.Der Druck, sich zwischen einem imaginierten Osten und einem skizzenhaft glorifizierten Westen entscheiden zu müssen, zerstört das reiche kulturelle Erbe, das türkische Autoren sonst antreten könnten. Meine nationalistischen Kritiker fragen mich, wohin ich mich denn jetzt zähle, "zur türkischen oder zur englischen Literatur?". Ich halte diese Frage für falsch gestellt. Ich glaube, beides ist möglich. Man kann multikulturell sein, man kann viele Sprachen sprechen und auch viele Glauben haben.Oben in den Himmeln, so erzählt eine islamische Legende, gibt es einen Baum. Es ist der Tuba-Baum. Er steht Kopf. Seine Wurzeln gehen nicht in die Erde, sondern in die Luft.Wann immer meine Leser mir nationale Pflichten auferlegen, kämpfe ich dagegen an, nicht nur, weil ich anti-nationalistisch bin, sondern auch weil mein Schreiben eine ununterbrochene Suche nach dem Tuba-Baum ist. Ich wurde in Straßburg geboren, ich verbrachte meine Kindheit in Spanien und jetzt lebe ich halb in Arizona und halb in Istanbul. Sicher, ich habe Wurzeln, aber sie gründen nicht in einem Territorium oder in irgendeiner nationalen Identität. Es sind Luftwurzeln.------------------------------Elif Shafak (34) unterrichtet an der University of Arizona in Tucson Genderstudies. Sie ist Autorin von fünf in der Türkei sehr bekannten Romanen. Ihr neuester "Die Heilige des nahenden Irrsinns" ist auf Deutsch gerade im Eichborn-Verlag erschienen.