Ein amerikanischer Offizier vernimmt 1944/45 das besiegte Deutschland: "Lügendetektor" von Saul K. Padover: Wir sind alle unschuldig

Saul K. Padover, Historiker und Offizier der U.S. Army, gehörte während des Zweiten Weltkriegs einer neu gegründeten Abteilung an dem PWD. Die Aufgabe dieser "Abteilung für Psychologische Kriegsführung" war es, "Informationen über den Feind zu sammeln", um der amerikanischen Heeresleitung genaue Expertisen zu liefern. Diese sollten das Ende des "Hitlerismus" durch geeignete, das heißt auf die Mentalität der Deutschen abgestimmte Propaganda, beschleunigen helfen. Vom Oktober 1944 bis zur Kapitulation im Mai 1945 interviewte Padover mit seinen Kollegen Deutsche und nach Deutschland verbrachte ausländische Zwangsarbeiter. Während dieser Gespräche stellte Saul K. Padover einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Mythos vom "guten Deutschen" und den Gaskammern in den KZs fest. "Gute Deutsche" und Gaskammern bildeten laut Padover immer dann keinen Widerspruch, wenn politisches Handeln unter juristischen und nicht unter moralischen Aspekten beurteilt wurde. Die juristisch geprägte Sicht ermöglichte den "guten Deutschen" eine "kriminelle Passivität" gegenüber allen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie hätten ja dies und jenes tun auch in die NSDAP eintreten müssen, weil es vom Staat und seinen Gesetzen so vorgeschrieben war.Saul Padover hat seine Erlebnisse mit den Interviewten niedergeschrieben und durch historische Berichte des PWD an die Heeresleitung ergänzt. Jetzt ist "Lügendetektor" zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden, und das kann kein Zufall sein. Das Bild der Deutschen in diesem Buch ist vernichtend. (Zudem scheint es in Teilen, besonders wenn man die Stasi-Debatte der letzten zehn Jahre einbezieht, hochaktuell.) Die deutsche "Herrenrasse" präsentierte sich den amerikanischen Eroberern als "hartherzig", "mitleidslos", ohne Anstand, denunziatorisch, stumpf, "gleichgültig", "autoritätshörig und dokumentenfixiert". Zudem zeichnete sich die "Herrenrasse" durch "Kadavergehorsam" aus. Kaum einer der Befragten, so Padover, habe die Aggression der Faschisten als solche und die Grausamkeiten gegen die Bevölkerungen der annektierten Länder kritisiert. Kritisiert wurde allein das Scheitern dieser Aggression der verlorene Weltkrieg.Padovers lapidare Sachlichkeit erschüttert den Leser ebenso wie der Gegenstand. Dennoch verdeutlichen die Aufzeichnungen, wie sehr ein Geschichtsbild eine Frage der Erhebung von Daten, ihrer Interpretation und Darstellung ist. Ergebnisse werden immer von dem zur Verfügung stehenden Material bestimmt. Was für Leute konnten nun vom PWD befragt werden, um den deutschen Nationalcharakter zu ergründen? Natürlich nur die, die in Deutschland geblieben und nicht von den Nazis gebrochen oder sogar getötet worden waren. Damit fällt für Padovers Untersuchungen eine wichtige Gruppe Deutscher aus, die er auch theoretisch nicht als Teil dieses Volkes mitdenkt: die Exilanten, die als Landesverräter inhaftierten und in den Gefängnissen und KZs getöteten Deutschen. Sicher war es nicht Padovers unmittelbare Aufgabe, sich um Abwesende zu kümmern, die das Bild positiv hätten beeinflussen können. Doch seine Erhebungen zu einem deutschen Nationalcharakter tragen aus der Sicht des nachgeborenen Lesers nicht nur Züge einer ahistorischen Mystifizierung (als sei Nationalcharakter Schicksal und eine Art genetisches Verhängnis), sie vernachlässigen auch einen eliminierten Teil der Deutschen.Verdenken kann man dem Autor sein Vorgehen keinesfalls. Der Krieg war noch im Gange. Padovers Schlussfolgerungen sollten aktuelle, operative Verwendung finden. Das PWD hatte nicht nur wenig Zeit, die Arbeit der Abteilung galt innerhalb der amerikanischen Armee auch als kurios und ihre Nützlichkeit als zweifelhaft, so dass mit Unterstützung aus den eigenen Reihen nicht unbedingt zu rechnen war. Obwohl die PWD-Mitarbeiter unter starker Anspannung standen man bewegte sich unter Lebensgefahr in verminten oder unter Beschuss stehenden Orten und musste die eigenen potenziellen Henker interviewen , blieben ihre Analysen sachlich. Der oft einsetzende Schock über die fanatisch-verhetzten Bekundungen der Deutschen war seitens der amerikanischen Interviewer oft nur durch Zynismus zu kontern. Die Amerikaner besetzten in rascher Folge den deutschen Westen. Es herrschte ein enormer Entscheidungszwang, der schnelle Empfehlungen der PWD-Leute verlangte. Um die Städte und Dörfer lebensfähig zu erhalten, mussten schnell Schlüsselpositionen besetzt werden. Altnazis teilten, wie in Aachen, Ämter bereits wieder unter sich auf. Padovers Analysen und Berichte waren also Gebrauchspapiere für den Kriegsalltag. Sie beeinflussten die Deutschlandpolitik der amerikanischen Militärregierung unmittelbar und wurden später von Eisenhower berücksichtigt.Der hohe moralische Anspruch des Autors prägt das Buch bei aller Sachlichkeit. Saul Padover, 1905 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren, stellte einleuchtend einfache Fragen: Warum gab es keine deutsche Widerstandsbewegung, ähnlich der französischen Résistance? Dabei bedachte der Autor nicht, dass Frankreich ein besetztes Land war und Deutschland nicht. Da er moralisch von einem immer möglichen Heldentum des Einzelnen ausging, mussten ihm die Deutschen als Volk feige erscheinen. Einer der noch lebenden deutschen Halbjuden bestätigte ihm, "dass die Deutschen kein moralisches Empfinden haben." Padovers moralisch geprägtes Politikverständnis ist menschlich unbedingt einleuchtend, eignet sich aber nicht zur historischen Analyse. Doch oft müssen Moral und Empirie vor Analyse gehen. So war es, als Padover nach Weimar-Buchenwald kam. Der Ort erschütterte den Mann, der offenbar keiner Gefahr aus dem Weg ging und schon allerhand hatte mit ansehen müssen. Er stand vor Knochenbergen und erlebte, wie amerikanische Militärärzte vergeblich versuchten, die zu Skeletten abgemagerten Überlebenden durch Injektionen am Leben zu erhalten. Er sah die aus Menschenhaut gemachten Lampenschirme im Büro des Lagerkommandanten, dessen Frau, eine Nymphomanin, abends Häftlinge zu ihrem Vergnügen auswählte, die sie am Morgen töten ließ. Den Deutschen, so der schockierte Padover, mache es nichts aus, "Menschen zu verbrennen, aber Dokumente wurden niemals verbrannt". Nach Buchenwald fiel es Saul Padover zunehmend schwer, Deutsche überhaupt zu ertragen. Er brach zusammen, begleitete die amerikanischen Einheiten noch bis nach Torgau, wo das Zusammentreffen mit der sowjetischen Armee gefeiert wurde, und kehrte dann um, nach Hause zurück. Einerseits hatte er Buchenwald vor Augen, andererseits ehemalige deutsche Volksgenossen, die sich bei ihm darüber beklagten, dass sie seit Kriegsanfang weder Kaffee noch Zucker, weder Wein noch Urlaub genossen hätten. Es sei ihnen so schlecht gegangen. Saul Padover, gewiss kein zarter Mann, konnte nicht mehr. Immer wieder hörte er: "Wir sind alle unschuldig.""Lügendetektor" zeigt, wie sich das Deutschlandbild des Amerikaners im Verlauf von sechs Monaten verhärtet. Der deutsche Faschismus war zwar nicht der einzige auf der Welt, aber er war unbestreitbar der am meisten systematische und in seiner Grausamkeit gründlichste. Die Einblicke in den Verlauf des letzten Kriegshalbjahres und die Prophezeiungen der befragten Deutschen zu Deutschlands Zukunft lassen den Atem des Lesers so manches Mal stocken. Deutschland, so ein Mann Jahre vor der Teilung in BRD und DDR, werde alles tun, um wieder ein Volk zu werden. Erfahrungen wie denen von Saul Padover kann man nichts entgegensetzen. Dies macht die "Aufarbeitung von Geschichte", die oft nichts anderes ist als der Versuch einer Analyse von Erfahrungen, so schwer, wenn nicht unmöglich. Auch wenn man Padovers Deduktionsmethode heute anzweifeln kann, wird die nachträgliche rationale Analyse doch immer einen Anstrich von Hybris gewinnen. Bleibt zu sagen, dass der Leser sich mehr Informationen über die Entstehung dieses Buchs gewünscht hätte. Und noch eine einfache Frage: Warum ist es bisher nicht in Deutschland erschienen?Saul K. Padover: "Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45". Aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork, mit Kriegsfotografien von Lee Miller. Eichborn Verlag/Die Andere Bibliothek, Frankfurt a. M. 1999. 340 S., 44 bzw. 58 Mark.