Ein bedrückender Film: Ludwig Blochberger und Katharina Schüttler in "Der Vater meiner Schwester": Gut gemeinte Lügen
Seit er denken kann, hat Paul geglaubt, ein Halbwaise zu sein. Sein Vater, so ist ihm immer wieder erzählt worden, sei bei einem Hilfseinsatz im indischen Boopal ums Leben gekommen. "Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Junge sich in diese Geschichte so reinsteigern würde", rechtfertigt sich Pauls Mutter am Ende des Film gegenüber Pauls Vater. Denn der ist in Wahrheit gar nicht tot. Klaus Merbold ist ein Zahlvater. Er lebt bis heute in der gleichen Stadt wie sein Sohn und hat 19 Jahre lang pünktlich die Alimente überwiesen. Ansonsten wollte der verheiratete Klinikarzt und Familienvater nichts mit dem Ergebnis seines Seitensprungs zu tun haben.Unausgesprochene WahrheitenAls Paul (Ludwig Blochberger) von dieser Lebenslüge erfährt, bricht für den jungen Kochlehrling eine Welt zusammen. Aber die Erschütterung hat nichts von einem Erdbeben, das einem von einem Moment zum anderen den Boden unter den Füßen wegzieht. Den tiefen Abgrund der Enttäuschung registriert der junge stille Mann erst mit erheblicher Zeitverzögerung. Bis dahin hat Pauls Neugier auf seinen Vater bereits in ein ganz anderes Desaster entstehen lassen: Um Klaus, der auch nach einem ersten Treffen einen engeren Kontakt zu seinem Sohn ablehnt, doch nah sein zu können, hat Paul sich mit dessen Tochter befreundet. Während Paul in Susa (Katharina Schüttler) vor allem die gleichaltrige Halbschwester sieht, verliebt sich die junge Frau in ahnungsloser Hingabe in ihren Bruder.Obwohl alle Personen dieses Dramas in familiären Bezügen leben, zeigt "Der Vater meiner Schwester" ausnahmslos vereinsamte Menschen: Pauls Vater (Christian Berkel) führt offenbar eine glückliche Ehe, aber er hat nicht genug Vertrauen in die Stabilität seiner Beziehung, um seiner Frau die Wahrheit über Pauls Existenz zu beichten. Pauls Mutter (Johanna Gastdorf) musste sich zwanzig Jahre lang dem Lebenskonzept der "alleinerziehenden Mutter" unterwerfen. Nun, da ihr Sohn endlich erwachsen ist, will sie mit einem neuen Lebenspartner noch einmal anfangen. Sie macht das, was sonst Kinder mit ihren Eltern tun: Sie zieht aus und lässt Paul in der gemeinsamen Wohnung zurück. Paul, immer auf der Suche nach einer kompletten Familie, ist offenbar mit seinem vaterlosen Schicksal nicht allein. "Die wenigsten meiner Freunde sind mit einem Vater aufgewachsen", erklärt er Susa achselzuckend, "du bist da eher eine Ausnahme."Aber der von Christoph Stark sensibel inszenierte Fernsehfilm "Der Vater meiner Schwester" ist nicht allein ein Film über die kollektive Vereinsamung in unserer modernen Patchwork-Gesellschaft. Es ist vor allem ein Film über falsche Rücksichtnahmen und die fatale Langzeitwirkung gut gemeinter Lügen. Es wird wenig gesprochen in diesem bedrückenden Film (Drehbuch: Jochen Bitzer und Christoph Stark), und wenn doch, fallen meist die falschen Worte. Trotzdem spürt man in der sehr filmischen Inszenierung (Kamera: Jochen Stäblein) früh: Es sind nicht die falschen Worte, sondern die vielen unausgesprochenen Wahrheiten, die unweigerlich zur Katastrophe führen werden.In einer brillant gespielten Schlüsselszene versammelt die Geschichte alle Beteiligten an Pauls Küchentisch: Unter dem Vorwand, für seine Gesellenprüfung üben zu müssen, hat er Susa und ihre Eltern zu sich eingeladen. Während das höfliche Tischgespräch zwischen Susa und ihrer Mutter um Pauls vermeintlich feigen Zahlvater kreist, zeigen die stummen Blicke, die die beiden Männer über die Köpfe der Frauen hinweg wechseln: Hier findet gerade ein gnadenloser Vatermord statt.Unter anderem für die Besetzung dieses Films wurde die Casterin Nessie Nesslauer in diesem Jahr für den Adolf Grimme Preis vorgeschlagen. Tatsächlich sind die Figuren bis in die letzten Nebenrollen hinein hochkarätig und ausgesprochen stimmig besetzt. Besonders dem jungen Ludwig Blochberger als Paul gelingt hier mit seinem introvertierten Spiel eine beeindruckende Leistung. Vor allem in den Szenen mit Christian Berkel entfalten die beiden ein im besten Sinne theatrales Spiel, wie man es in dieser Intensität im Fernsehen nur noch selten sieht.Der Vater meiner Schwester, 20.15 Uhr, ARD------------------------------Ein im besten Sinne theatrales Spiel, wie man es in dieser Intensität im Fernsehen nur noch selten sieht.------------------------------Foto: Traut ist anders: Sohn (Ludwig Blochberger), mit Vater (Christian Berkel) und Halbschwester (Katharina Schüttler).