Ein Gespräch mit Friedrich Gorenstein zu Judentum, Rußland und Berlin: Nach Rußland zurück? Ich bin doch kein Masochist
Seit 1979 lebt der russische Schriftsteller Friedrich Gorenstein in Berlin. Vier der sechs Geschichten seines jüngsten Buches "Champagner mit Galle" sprechen von antisemitischem Druck und jüdischem Anpassungsverhalten in der Sowjetunion. Über Judentum, seine russische Herkunft und Umgebung und das Leben in Berlin sprach mit ihm Peter Jacobs. Gorenstein wurde 1932 in Kiew geboren. Der Vater starb, nachdem er versucht hatte, aus einem stalinistischen Lager auszubrechen; die Mutter überlebte den Holocaust und starb an den Entbehrungen der Nachkriegszeit. 1962 gelangte Gorenstein an das Moskauer Filminstitut und schrieb u. a. für Andrej Tarkowski. Literarische Veröffentlichungen blieben ihm, mit einer Ausnahme, verwehrt. 1979 reiste er nach Westberlin aus. Seit dem Mauerfall gab der Aufbau Verlag sieben Bücher Gorensteins heraus, von denen der Roman "Skrjabin" über die Selbstmystifizierung des russischen Komponisten zum Welterlöser als das bedeutendste gilt. Herr Gorenstein, andere ehemals emigrierte russische Schriftsteller wie Solshenizyn sind längst zurück in Rußland. Sie nicht.Wenn man Millionär ist, kann man sich in der ganzen Welt einrichten. Wenn ich Millionen hätte, würde ich ein Haus in Rußland, eins in Israel und eins in Venedig kaufen.Ihr neues Buch "Champagner mit Galle" enthält neben einer auf russisch schon bekannten Erzählung sechs bisher unveröffentlichte Geschichten aus der Schublade der siebziger und achtziger Jahre. Kommen die nicht ein bißchen spät?Ich bin kein politischer Literat. Die Qualität der Bücher macht aus, was einer ist, nicht der Nobelpreis. Solshenizyn glaubt, er sei die Stimme Rußlands. Aber nur einige von seinen ersten Erzählungen waren gut.Wie standen Sie zu Lew Kopelew?Der war kein Schriftsteller, sondern ein Publizist. Einer, der sich größer machte, als er war. Nichts für literarische Feinschmecker. Deshalb ist er eigentlich auch schon vergessen.Werden Sie zurückgehen nach Rußland?Ich bin doch kein Masochist. In Deutschland erfuhr ich zum ersten Mal, was es bedeutet, eine eigene Wohnung zu haben. In Rußland habe ich noch meine alten Feinde, zu einem nicht kleinen Teil übrigens selbst Juden. Die stehen jetzt auf der liberalen Seite, erweisen sich aber beim genaueren Hinsehen weiterhin als totalitär.Der Titel Ihres neuen Erzählbandes reflektiert dieses Gefühl. Sie beziehen sich auf die Apostelgeschichte: "Denn ich sehe, daß du bist voll bitterer Galle und verknüpft mit Ungerechtigkeit." Sie aber sind doch ein jüdischer Schriftsteller.Nein. Ich bin ein russischer Schriftsteller. Meine Kultur ist russisch. Entscheidend ist immer die Sprache. Heinrich Heines Gedichte sind zu deutschen Volksliedern geworden, nicht zu jüdischen. Joseph Conrad war ein englischer Schriftsteller und kein Pole, obwohl er in seiner Kindheit polnisch sprach und in der Ukraine geboren wurde. Wie ich.Mittlerweile leben Sie das 18. Jahr in Deutschland. Färbt das nicht ab?Ich tue mich schwer mit der deutschen Sprache, bis heute. Ich schreibe mit der Hand. Natürlich kyrillisch. Und das wird immer so bleiben.Sie wohnen in einer Gegend Berlins, die schon einmal Zentrum russischer Emigranten war, in den zwanziger Jahren. Damals nannten die Berliner das Stadtgebiet zwischen Kantstraße und Olivaer Platz wegen der vielen Russen Charlottengrad. Gerade die Literaten von Nabokov bis Zwetajewa und Pasternak brachten russische Kultur nach Berlin.Es war aber vor allem ein Tummelplatz russischer Vulgarität und politischer Kämpfe. Am Nollendorfplatz, im Restaurant "Rotes Haus", haben russische Schwarzhunderter, also Faschisten, Nabokovs Vater erschossen.Damals lebten eine viertelmillion Russen in Berlin, Parteigänger wie Vertriebene der Oktoberrevolution. Heute sind es schon wieder hunderttausend, die illegalen mitgezählt. Wirkt sich das auf Sie, den Langzeitemigranten, aus?Das russische Leben wird jetzt wieder interessant, aber ich nehme daran nicht teil. Ich bin ein Einzelgänger. Fast alle, die kommen, wollen nur Geschäfte machen mit Rußland. Eigentlich ist das ja gar keine Emigration, sondern eine selbstgewählte Evakuierung. Sie reden von nichts anderem als vom Geld. Die russischen Zeitungen in Deutschland sind nicht für gebildete Leute geschrieben. Mich hat noch keiner nach meinem Skrjabin-Roman gefragt.Warum versuchen Sie nicht, sich deutlicher bemerkbar zu machen?Ich bin befreundet mit ein paar Leuten, die ein russisches Magazin für Kultur und Politik herausgeben. Eine sehr bescheidene Publikation gedruckt in Estland, wo es sehr billig ist. Chefredakteur ist Juri Poljanski, ein junger Biologe von der FU. Ein paar deutsche Studenten helfen ihm. Die gesamte letzte Ausgabe habe ich geschrieben. Über Renegaten wie Otto Weininger zum Beispiel, wohl der einzige Jude, der gut über Hitler redete. Auch über Bruno Kreisky, der auf einem Foto mit Gaddafi zu sehen ist, während es in Österreich nie einen SS-Prozeß gegeben hat. Und über den KGB-Agenten Sergej Chmelnizki, der sich heute immer noch in Berlin tummelt.Die jüdische Gemeinde in Berlin wächst durch russische Zuwanderung. Suchen Sie dort nicht Kontakt?Überhaupt nicht. Mein Verständnis für Gott ist nicht religiös bestimmt. Im übrigen ist das eine sehr gemischte Gemeinschaft. Ein Viertel der Neuen oder mehr sind gar keine Juden. Es werden ja auch die Ehegatten mitgezählt. Das Schlimmste für mich sind Antisemiten, die jetzt unter jüdischer Maske kommen.Jüdische Identität, besser gesagt: jüdische Balance in einer mehr oder weniger antisemitisch durchtränkten Gesellschaft ist das literarische Grundthema ihres neuen Erzählbandes. Der Stalinist Tschassownikow erweist sich als ein heimlicher Monarchist, der sogar Lenin für einen Judenzaren hält. Der biegsame Zionist Lejkin, den Sie einen Weißjuden nennen, reklamiert Stalin als Sohn eines muselmanischen jüdischen Schusters wegen des georgischen Familiennamens Dshugaschwili Dshuga bedeutet Jude. Auch wenn die Geschichten noch in sowjetischen Zeiten spielen: Sie transportieren heutige Gefahren. Fürchten Sie einen neuen russischen Antisemitismus?Ich fürchte gar nichts. In Moskau habe ich nazistische Veranstaltungen besucht, um ein bißchen zu spionieren. Die russischen Wölfe glauben, daß sie breite Unterstützung finden werden. Es gibt ja auch genug frühere Parteibonzen, die jetzt ins Lumpenproletariat abstürzen. Aber das ist eine Generationsfrage. Das verliert sich irgendwann.In der Erzählung "Der kleine Obstgarten" heißen die Mitarbeiter eines Büros Wenja Apfelbaum, Sascha Birnbaum und Rafa Kirschenbaum. Sie machen ihrer Sklavenpsyche Luft durch heimliche Ausreisewünsche und Russenhaß. Und einer versteigt sich zu dem Zynismus: "Eine gewisse Zahl vemünftiger Antisemiten ist eine unerläßliche Bedingung für unsere Existenz. Hauptsache, zwischen ihnen und uns wird ein ökologisches Gleichgewicht eingehalten." Gilt das auch jetzt?Jelzins Verdienst ist, daß er die Nationalbolschewiki nicht an die Macht ließ. An seine liberalen Berater glaube ich nicht. An der Spitze Rußlands sähe ich lieber einen Mann wie den Moskauer Oberbürgermeister Luschkow. Ein kluger Nationalist, aber nicht chauvinistisch und antisemitisch.Israel wäre das nicht eine Alternative für Sie?Ich unterstütze das Land. Aber sie haben dort kein Buch von mir gedruckt. Und außerdem dieses Klima, diese Hitze im Sommer.Ist Ihnen dort auch das politische Klima zu heiß?Das nicht, wenn Sie damit den Konflikt mit den Arabern meinen. Mir machen die Linken in Israel Sorgen mit ihrem Ghetto-Bolschewismus. Die Leute, die Perez unterstützen, sind ja die Lieblinge der deutschen Linken, die noch Stalin an der Wand haben.Ein hartes Wort.Das eine bedingt das andere. Sehen Sie, auch die deutsche Regierungspolitik ist mir zu liberal, und zwar gegenüber den nazistischen Banden. Ich kriege manchmal Anrufe, da grüßt mich jemand mit "Heil Hitler". Ich lache nicht. Ich bin nicht liberal. Ich schlage zurück. Ich wünsche diesen Kerlen den Krebs in die Lungen.Zurück zur Literatur. Die Zürcher "Weltwoche" schrieb, bei Ihnen sei die elegante, psychologisierend-realistische Prosa des 19. Jahrhunderts wiederzuerkennen, Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew.Leider ist Rußland jetzt nicht von einem Lesefieber heimgesucht. Es wird viel scheußliche Literatur gedruckt. Krimis, primitive Romane für die Metro, miese amerikanische Übersetzungen. Nur der Petersburger Limbus Verlag hat sich an zwei Bände von mir herangewagt, gedruckt allerdings in New York. Im Moskauer Maly Theater läuft mein Theaterstück über Peter den Großen. Ich bekomme immer mehr Briefe von sehr jungen Leuten. Meine eigentliche Hoffnung ist eine Generation, die keine totalitären Erfahrungen mehr hat und auch klüger sein wird als diejenigen, die Wissotzky und Okusdshawa hinterhergelaufen sind.Sie waren mal Vorstandsmitglied im Schriftstellerverband in Westberlin. Heute legen Sie keinen Wert mehr darauf.Die Literatur lebt mit dem Leser, nicht in literarischen Gesellschaften. Ich behalte die Hoffnung auf den deutschen Leser, wenngleich 70 Prozent amerikanische und englische Übersetzungen auf den Bestsellerlisten keinen guten Trend ausweisen. Es muß ja kein Millionenpublikum sein, Zehntausende wären auch schon gut.Was wollen Sie demnächst schreiben?Wenn Gott mir die Kraft gibt, ein Buch über den Krieg und das heutige Deutschland. Aber dafür muß ich noch viel lesen. Auch in gotischer Schrift. Jedenfalls auf Deutsch.