Ein Jugendlicher tötet ein Nachbarskind in Berlin-Zehlendorf. Er erhält dafür die Höchststrafe - zehn Jahre Gefängnis: Mord aus Mordlust
BERLIN. "Ich werde dich nie vergessen." Das hat ein Mädchen mit krakeliger Kinderschrift auf die Rückseite eines Fotos geschrieben. Und auch noch ein kleines Herzchen unter den Satz gemalt. Das Mädchen ist sieben Jahre alt. Genauso alt wie der Junge auf dem Foto. Beide waren Nachbarskinder, wuchsen zusammen in Zehlendorf auf. Der Junge, Christian, ist tot, er wurde erschlagen im August vergangenen Jahres. Gestern Mittag wurde sein Mörder zu zehn Jahren Jugendstrafe verurteilt.Kurze Zeit später stiegen vor dem Kriminalgericht Moabit gut ein Dutzend blaue und weiße Luftballons in den Himmel. An ihnen hingen die Fotos von Christian. Und die letzten Grüße. "Wir sind bei Dir", stand da auch. Jemand schrieb nur ein Wort, "Warum?"Die Luftballons und Fotos hatten Freunde, Bekannte und Verwandte von Christians Eltern mitgebracht. "Wir können nicht vergessen, wir hoffen aber, dass wir jetzt erst mal einen Abschluss haben und dass ein bisschen Ruhe einkehrt", sagte Christians Großmutter.Der Mörder ist auch ein Junge aus der Nachbarschaft, Keith, 16 Jahre alt zur Tatzeit. Er wohnte in einem Nebenaufgang der Siedlung im Süden Zehlendorfs.An der Tür zum Saal 739, in dem seit Ende Februar gegen Keith verhandelt wurde, hing auch während der gestrigen Urteilsverkündung ein roter Zettel mit dem Hinweis, dass die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Christians Eltern saßen mit im Gerichtssaal, auf der Zuschauerbank, schräg hinter dem Mörder ihres Sohnes. Sie waren allein. Die Richter hatten bis zum Schluss nicht erlaubt, dass ihr Anwalt oder ein anderer Vertrauter der Familie neben ihnen sitzen darf. Es sei weder eine juristische noch eine psychologische Betreuung von Nöten", lautete die Begründung.Sie hätten auch anders, sensibler entscheiden können. Bei Jugendstrafverfahren liegt es im Ermessen der Richter, wen sie im Gerichtssaal dulden."Die Familie fühlt sich allein gelassen, es ist unglaublich, wie sie behandelt wird", sagte eine Frau auf dem Flur. Sie ist eine Freundin von Christians Mutter. Christians Großeltern, Nachbarn und Bekannte warteten vor dem Saal. Niemand von ihnen forderte härtere Strafen für jugendliche Täter wie Keith. Sie waren vor allem ins Gericht gekommen, um den Eltern nahe zu sein und ihnen beizustehen.Tieftraurig sei er, sagte der Großvater. "So ein Urteil, egal wie es ausfällt, nimmt den Schmerz nicht." Auf dem Fensterbrett im Gerichtsflur stand - wie auch zu Prozessbeginn - eine brennende Kerze, daneben Christians Foto.Die Richter der 30. Großen Strafkammer, einer Jugendstrafkammer, haben Keith wegen Mordes und Körperverletzung zu der mit zehn Jahren höchstmöglichen Strafe nach dem Jugendstrafrecht verurteilt. Sein Mandant habe mit so einem Urteil gerechnet und es gefasst aufgenommen, sagte Keiths Anwalt Matthias Zieger.Die Richter kamen zu dem Schluss, dass Keith den siebenjährigen Christian heimtückisch und aus Mordlust getötet habe. Zudem verurteilten sie ihn, weil er im Juni 2005 gemeinsam mit einem Freund einen 23-jährigen Bundeswehrsoldaten durch Schläge und Tritte verletzt hat. Die Tat geschah im Juni 2005 an einer Tankstelle in Zehlendorf. Keith und sein Freund hatten derart auf ihr Opfer eingeschlagen und eingetreten, dass es mit Hirnblutungen in ein Krankenhaus kam.Der siebenjährige Christian hatte sich am Vormittag des 27. August 2005 von seinen Eltern verabschiedet, um auf den nahe gelegenen Spielplatz zu gehen. Als Christian mittags nicht nach Hause kam, machte sich sein Vater auf die Suche. Er fand seinen Sohn tot in einem Gebüsch am Rande einer verwilderten Baumschule am Lupsteiner Weg. Christian lag nackt unter einer Plane.Drei Tage später wurde Keith festgenommen.In der Anklageschrift hieß es, Keith habe Christian in ein Geheimversteck gelockt und dort mit Fäusten und einem Ast auf ihn eingeschlagen, ihn gegen Kopf und Hals getreten. In der Anklageschrift war die Staatsanwaltschaft zunächst auch noch davon ausgegangen, dass Keith Christian aus Frust erschlug und sich damit sexuelle Befriedigung verschaffen wollte. In ihrem Plädoyer sprach die Staatsanwältin dann - ebenso wie gestern die Richter - von Mordlust.Anlass für die geänderte Einschätzung war offenbar ein weiteres Geständnis von Keith. Kurz vor einem ursprünglich geplanten Urteil Anfang Mai soll er plötzlich erklärt haben, dass er schon immer jemanden umbringen wollte, um zu wissen, wie das sei. Und er soll gesagt haben, dass es wieder passieren würde, wenn ihm niemand helfe.Mordlust heißt, dass der heute 17-Jährige den kleinen Christian nur aus dem Grund tötete, weil er Spaß am Töten empfand. Keith galt zwar als so genannter Intensivtäter, war bereits durch viele Gewalttätigkeiten aufgefallen - aber was machte ihn zu einem Mörder?Sein Anwalt sprach gestern von einer schwierigen Entwicklung und von gravierenden Mängeln auf Grund der Erziehung - von Defiziten bei den Großeltern, bei den Lehrern, beim Jugendamt - konkret wurde er nicht.Keith wuchs bei seinen Großeltern auf. Sie kamen an jedem Prozesstag mit ins Gericht und zogen sich jedes Mal ihre Jacken über den Kopf, um sich vor Fotografen zu schützen. Keith kennt seinen Vater nicht, einen schwarzen GI. Es heißt, der Vater sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Mutter soll danach eine Weile mit dem Baby bei den Großeltern gelebt und dann allein in die USA gegangen sein. Keith ließ sie zurück.Seit er elf Jahre alt ist, fiel er auf, er wurde später wegen Körperverletzungen verurteilt. Hinzu kamen Probleme mit Drogen und Alkohol, mit 13 begann er zu kiffen. Er soll zu Wutausbrüchen neigen und sehr jähzornig sein, heißt es. Und dass er schnell ausrastet, wenn er sich provoziert fühlt. Wenn er zum Beispiel als "Neger" beschimpft wurde. Eine Lehrerin von ihm vermutete, dass er sich insbesondere von Kindern provoziert fühlte, die aus einem besseren Elternhaus kommen als er.In seinem Fall sprechen Gutachter gern von einer "disozialen Persönlichkeitsstörung". Das ist dann der Fall, wenn Menschen keine Regeln akzeptieren, wenn sie sich selbst erhöhen, gern Macht über andere ausüben und dafür nur ihre eigenen Maßstäbe zu Grunde legen. Eine solche Störung kann krankhaft sein. Das bedeutet, dass ein Täter mit solchen Persönlichkeitsstörungen für die Allgemeinheit gefährlich ist und deshalb auf Dauer und unbefristet in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesen wird.Im Prozess gegen Keith stand die Frage einer solchen Klinik-Einweisung durchaus im Raum, weil so manches an den Taten für eine krankhafte Störung sprach. Allerdings hat sich der psychiatrische Gutachter mit einer eindeutigen Prognose schwer getan.Möglicher Hintergrund könnte sein, dass Persönlichkeitsstörungen in diesem Alter noch nicht fest ausgeprägt sind. Niemand kann also mit einiger Sicherheit sagen, wie sich ein junger Täter weiter entwickeln wird - und ob auf Dauer Gefahr von ihm ausgeht. Es kommt deshalb extrem selten vor, dass ein Jugendlicher oder Heranwachsender dauerhaft in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wird.Eine Prognose darüber, wie sich Keith weiter entwickeln werde, könne er frühestens in zwei Jahren abgeben, soll der Gutachter vor Gericht gesagt haben. In ihrem Urteil gingen die Richter dann zwar von einer verminderten Schuldfähigkeit aus - diese aber führte zu keiner Strafminderung. Unter anderem wegen dieses Widerspruchs bei der Strafzumessung ist Keiths Verteidiger Zieger mit dem Urteil nicht zufrieden. Er will Revision einlegen. Sollte er Erfolg haben, könnte auf Christians Eltern ein zweiter Prozess zukommen.Freunde und Nachbarn haben zusammengelegt und für Christian, seine Eltern und Großeltern einen Stern gekauft. Es ist so ein Stern, wie man ihn im Planetarium samt einer Patenschaftsurkunde bekommt. Der Stern gehört zum Sternbild Drache. "Wir hoffen, Christian ist dort angekommen und niemand wird ihm mehr wehtun", sagte eine Nachbarin. In klaren Nächten kann man den Stern sehen.------------------------------"So ein Urteil nimmt den Schmerz nicht." Der Großvater des Opfers------------------------------Foto: Gedenken - ein Bild von Christian neben einer Kerze im Berliner Landgericht. Der Junge aus Berlin-Zehlendorf wurde sieben Jahre alt.