Ein persönlicher Abschied von der Fotografin Sibylle Bergemann: Das ist jetzt eben so

Sie kommt bestimmt, aber ein bisschen zu spät und abgehetzt. Jeder Tag wird bei ihr zu einer Improvisationsübung zwischen Vorhaben und Vorfällen. Sie stellt Arbeitstaschen ab, die ich nur mit Mühe anheben kann. Beim Autofahren liegt eine Kamera auf ihrem Schoß, Sibylle Bergemann muss bereit sein. Was sie sieht, existiert nur für Augenblicke. Sie ist immer im Dienst. Nach einem Autounfall fährt sie mit Schmerzen in der Wirbelsäule zum vereinbarten Fototermin. Ihr fehlt jeder Selbstschutz. Weil sie stark sein will, ist sie stark. War sie stark.Hatte sie Feinde? Nie gehört. Sie war einfach zu gut, um anfechtbar zu sein. Auch zu bescheiden. Vor allem ging ihr das Jammern ab. Das Arrangement mit Umständen, egal mit welchen, war ein Credo ihres Arbeitslebens. Eine Kollegin von "Geo" erzählte, wie sie mit ihrer Fotografin irgendwo in Afrika Unterschlupf fand in dunkler Nacht, auf hartem Boden, nahe bei unbestimmbaren Geräuschen. Sibylle sagte nur: "Das ist jetzt eben so", und legte sich hin. Sie eignete sich nicht als Resonanzboden für sinnlose Beschwerden. Das ist jetzt eben so. Den Spruch kenne ich von ihr, auch wenn unsere Reportagereisen weit weniger beschwerlich waren. Mit einer Spur Fatalismus kommt man leichter durchs Leben.Der liebe Gott oder wer auch immer hatte sich mit ihr eine sehr schöne Frau ausgedacht, die nicht auffallen wollte. Sie bevorzugte bequeme Kleidung in erdigen Farben und fotografierte nahezu unbemerkt, unter Freunden hieß es dazu: "In aller Stille knipst Sibylle."Sibylle Bergemann und Arno Fischer - er war zuerst ihr Lehrer, dann ihr Mann - führten ein offenes Haus. Am Anfang handelte es sich um eine miese kleine Wohnung in der Hannoverschen Straße, Ofenheizung, Außentoilette. Immer waren Gäste da. Tags Arbeit, abends Feste. Wir sahen uns Fotos an, erzählten von Büchern und Filmen und bekamen langsam ein Gefühl für Maßstäbe in der Kunst. Wir redeten über die Weltlage, die sich mit jeder weiteren Flasche Korn besser erklären ließ.So blieb es auch später in der großen Wohnung am Schiffbauerdamm. Sibylle, die auch eine Innenarchitektin hätte werden können, machte aus großen Pflanzen, morbider Schönheit, skurrilen Objekten und lässiger Behaglichkeit eine melancholische Zuflucht. In Sibylles Schatten wurden viele zu Sammlern schöner alter Dinge. In meiner Wohnung stehen sie auch.Arno hatte oft Schlösser gezeichnet. 1972 war Sibylle für eine Reportage in der Gegend Gransee unterwegs und fragte einen Bürgermeister "aus Quatsch", ob es ein Schloss zu mieten gebe. Der Mann sagte ja. Nebenan. Sibylle und Arno fuhren nach Schloss Hoppenrade. Der Seitenflügel gehörte der Kirchgemeinde. Unten waren Kneipe und Konsum untergekommen. Im Haus wohnte auch eine Frau mit ihrem alten Vater, die sich am Fenster in einer Schüssel wusch. Die Tür zum Schloss stand offen - "als ob gerade jemand weggegangen wäre". So erinnerte sie sich.Für 37,40 Mark im Monat mieteten Sibylle Bergemann und Arno Fischer drei verwahrloste Räume in der ersten Etage und eröffneten ihren Platz in der Nischengesellschaft, die damals noch keiner so nannte. Für sieben Jahre wurde Schloss Hoppenrade ein magischer Ort für das Paar und seine Freunde. Wir wischten Spinnweben weg und kratzten Farbe von den Täfelungen und Türen. Alte Teppiche und Möbel, Samtdecken, Vasen und Spiegel verwandelten das größte Zimmer in einen Salon.Die Frauen kochten, die Männer schleppten Wasser von einem Hahn im Hof. Wir brauchten viel Wasser, es waren auch kleine Kinder da, die abends in einem Zuber gebadet wurden. Über allem lag Erwartung.Die Feste fingen mit Verkleidungen an. In Ost-Berlin gab es Läden, oft Geheimtipps, in denen Sachen aus Wohnungsauflösungen verkauft wurden. Sibylle hatte einen großen Fundus alter Kleider, Hüte, Taschen, Stoffe, Gardinen. Alle Besucher wühlten in Kommoden und Schränken, man wickelte sich in Spitzen, steckte Federn ins Haar, setzte Masken auf. Diese Gesellschaft lief dann mit Kerzen durch den verwilderten Park. Mit der Kostümierung fielen wir aus der Zeit in einen Schwebezustand. "Ausleben des Größenwahns" nannte das Arno, aber es hatte auch etwas Kindliches, Närrisches.Dann tanzten wir die ganze Nacht wie wild. Als Höhepunkt galt der Auftritt des Hausherrn, der manchmal mit einem Stuhl oder mit dem ausgestopften Schwan ein versunkenes Solo tanzte. Begleitet vom Lächeln seiner Frau, die ein Faible für alles Exzentrische hatte und Arno nicht zuletzt für diese Facette liebte. Wir schliefen auf Feldbetten oder auf dem Fußboden, außer den Kindern alle in einem Raum. Im Kellergewölbe kreischten die Katzen wie gefangene Seelen. An einem Morgen waren alle Kinder verschwunden: Aus dem Fenster sahen wir dann, wie sie im Gras saßen und Heiner Müller zuhörten, der ihnen Märchen erzählte. Er hatte die Kinder unterhalten, damit wir ausschlafen konnten.1978 kamen Diebe ins Schloss und raubten das Inventar. "Der Ort war entweiht", sagte Arno Fischer. Die Mieter zogen aus und wurden wieder nur Berliner. Aber auf den Fotos von damals lebt der Zauber noch.1999 machte Sibylle Bergemann Fotos für die Ausstellung "Mein liebstes Gut" im Kreuzberg-Museum: Menschen zeigten Gegenstände, die ihnen am Herzen lagen, und ein Begleittext erzählte, warum es gerade diese waren. Die Fotografierten sehen in die Kamera wie Besitzer nobler Vermögen, die Respekt für ihre Güter fordern können. Respekt für eine Horde Plüsch-Affen, ein Stück Treibholz, Zigaretten, für einen Ausbildungsvertrag, für eine Bierdose, für die Pudelhündin Elsa, die nach Aussage ihrer Besitzerin ganz deutlich "Mama" und "Hunger" sagen kann - "ehrlich!" Man sah jede Person mit Liebe, ohne die Reflexe von Abwehr. Ich weiß nicht, wie Sibylle das wieder hinbekommen hatte.Ich kann mich erinnern, dass sie von Perfektion träumte, aber vom Gefühl der Unzulänglichkeit geängstigt wurde. Hatte sie sich gut um ihre Tochter gekümmert, mit viel Zeit und Zärtlichkeit? Gut vermittelt zwischen dem pubertierenden Kind und dem Mann, der neu dazugekommen war? Wie viele Frauen jagte die Fotografin zwischen Beruf und Haushalt hin und her, sie wollte alles richtig machen und alles schön haben. Arno Fischer hat mit wenigen Worten diese Gratwanderung beendet: "Die Leute wollen deine Fotos sehen, Sibylle. Nicht deine Küche." Das, so erzählte sie, habe sie seltsam befreit.Sibylle Bergemann war eine verschwiegene Person. Man konnte sich ihr anvertrauen. Sie verlor kein Wort über die vielen Berühmten, die sie fotografierte. Ich weiß nur, dass sie lieber von Frauen Fotos gemacht hat als von Männern. "Frauen kann ich besser. Ich weiß, wann die schön aussehen."Ich bin glücklich, solche Bilder von ihr zu besitzen: Seit knapp dreißig Jahren mache ich mit Freundinnen am 8. März, dem Internationalen Frauentag, bei mir zu Hause eine Feier. Jede bringt was zu essen und zu trinken mit. Wir haben immer ein köstliches Buffet. Ich achte mit einer gewissen Strenge darauf, dass wir am großen Tisch sitzen und alle zuhören, was eine von uns gerade erzählt. Männer haben an diesem Tag keinen Zutritt, sie dürfen aber ihre angeschickerte Partnerin draußen vor der Tür abholen und nach Hause schaffen.Jedes Mal macht Sibylle ein Gruppenfoto. Wir drapieren uns vorteilhaft nach ihren Anweisungen, sie stellt auf einem Stativ die Kamera und den Selbstauslöser ein, rennt los und wirft sich zwischen uns. Blitz. Wir machen immer eine ernste und eine lachende Variante. Man kann sehen, wie Frauen älter werden und junge dazukommen. Meine Tochter ist auf diesen jährlichen Fotos vom Kleinkind zu einer erwachsenen Frau geworden. In der Bilder-Galerie entdecke ich auch Geschichten von zerbrochenen, enttäuschten, still ausgelaufenen Freundschaften. Manche Trennung tat weh wie eine unglückliche Liebe. Das gehört zum Leben, genauso wie die Frauen auf den Fotos, die immer dabei sind. Du fehlst.------------------------------Foto: Sibylle Bergemann, hier in einem Selbstporträt, ist in der Nacht zu Dienstag im Alter von 69 Jahren gestorben. Viele ihrer Fotografien sind im Magazin der Berliner Zeitung erschienen.