Ein Versuch über den Dramatiker Roland Schimmelpfennig: Triumph der Normalos
Wie in jedem anständigen Labyrinth muss man sich erst im Gewirr der dunklen Gänge verlieren, um das Licht am Ende schätzen zu können. Der Reporter sitzt mit dem Theaterautor und Dramaturgen der Schaubühne Roland Schimmelpfennig am Tisch eines Charlottenburger Italieners und versucht die miteinander verfilzten Ebenen von Schimmelpfennigs neuem Theaterstück "Die arabische Nacht" auseinander zu fitzeln, das in der Regie von Tom Kühnel am 25. Mai an der Schaubühne Premiere hat und das man - neben Yasmina Rezas "Drei Mal Leben" - als das Stück der Saison bezeichnen kann. Seit der Stuttgarter Uraufführung vor einigen Monaten vergeht kaum eine Woche, in der es nicht an einem Theater der Republik nachgespielt wird. Durchs Fenster starren die eindringlichen Augen der Büchner schen Revolutionäre von der Schaubühnenfassade gegenüber, während der Reporter die Figuren Kalil, Franziska und Lohmeier hintereinander aufzieht wie die Perlen einer Kette. Der Autor Schimmelpfennig hört freundlicherweise geduldig zu, tunkt das italienische Brot ins Olivenöl und fasst den Vortrag schließlich mit einem knappen Satz zusammen. "Klar, die Überlebenden sind die Normalos."Die meisten Stücke des Dramatikers Roland Schimmelpfennig sind seltsam. Einige aber, wie "Die arabische Nacht" zum Beispiel, sind sehr seltsam. Wasser verschwindet in einem Hochhaus und taucht in einem Wüstenzelt wieder auf. Unscheinbare Großstadt- frauen dürfen wegen eines geheimnisvollen Fluchs niemals den Mond sehen, haben dafür aber die Kraft, Männer zu verhexen, die sich plötzlich in einer Cognac-Flasche wiederfinden. Dennoch verlässt das Stück atmosphärisch nie die Auslegeware unserer kleinen Angestelltenwelt, in der der Höhepunkt des Tages die Dusche nach der Arbeit darstellt und so einfache Sätze gesprochen werden wie: "Die Tüten stelle ich in der Küche ab." Ein junger Mann namens Karpati, der gerne in die Wohnungen fremder Menschen guckt, sagt: "In dem kleinen Schrank über dem Waschbecken spiegelt sich die tief im Westen stehende Abendsonne." Man möchte Karpati zurufen: Sag weiter solche schönen Sätze, aber bleib, wo du bist! Zwischen den Billy-Regalen von Ikea. Lass dich nicht von der Abendsonne blenden, denn wer sich in exotische Fantasiewelten begibt, kommt darin um. Aber Karpati macht sich auf den Weg, überquert das Rasenstück zwischen den Häusern, weil er von Franziska angezogen wird, der fremden Frau aus dem Badezimmer gegenüber. Er wird schon sehen, was er davon hat.Roland Schimmelpfennig hat das Stück in den letzten anderthalb Jahren geschrieben, morgens zwischen sieben und neun, bevor er jeden Tag in die Schaubühne gefahren ist, um in einer winzigen weißen Bürozelle Produktionen zu produzieren oder Publikumsgespräche über "den ironiefreien Raum" vorzubereiten. Jetzt, da die Schaubühne sich konsolidiert hat, zieht er sich etwas zurück und wird ab der nächsten Spielzeit wieder als freier Autor arbeiten. "Ich habe genug geredet übers Theater. Ich merke schon, wie da die Energie weggeht." Man kann sich Roland Schimmelpfennig ohnehin schwer vorstellen als großen Theoretisierer. Er wirkt eher wie ein Mathematiker oder Tüftler, der geduldig an seinen Texten bastelt, bis die Motive richtig miteinander verknüpft sind, still und ordentlich hängen wie an einem Mobile, aber in verwirrendste Bewegungen geraten, sobald man eines berührt.Im Jahre 1996 schrieb Roland Schimmelpfennig schon mal ein sehr seltsames Theaterstück, das er "Vor langer Zeit im Mai" nannte. Das ist erst fünf Jahre her, aber in der schnelllebigen Theaterzeit, in der jährlich neue Epochen ausgerufen werden, eine Ewigkeit. Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, hatte an der Otto-Falckenberg Schule in München Regie studiert, war ein paar Jahre Assistent bei Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen gewesen, hatte die Stücke "Fisch um Fisch" und "Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid" geschrieben und lebte als freier Autor in München, "direkt gegenüber den Kammerspielen". Auf einem Foto aus der Zeit trägt er eine schwarze Brille und eine dieser Barbour-Jacken und sieht ziemlich westdeutsch aus. "Vor langer Zeit im Mai" handelt vom Scheitern der Liebe und der Einsamkeit der Erinnerung, kommt fast ohne Worte aus und besteht aus 81 luftigen Bildern für die Bühne. Ein Mann und eine Frau versuchen sich zu unterhalten. Früher waren sie mal ein Paar, aber die Geschichte ist längst vorbei, und jetzt sitzen sie hier, aneinander geschweißt durch die Intimität der Vergangenheit und gleichzeitig Galaxien voneinander entfernt.Sagt sie also: "Hast du. hast du eigentlich das Fahrrad noch? Dein Fahrrad?"Er: "Das Fahrrad? Ja, das Fahrrad - ich weiß nicht. Ich habe das Fahrrad noch."Sie: "Geht es dir gut?"Er: "Ja."Dann Schweigen, unangenehm wie Sand zwischen den Zähnen, und schließlich fragt er: "Was war in dem Koffer?"Sie: "Was in dem Koffer war? Warum fragst du nach dem Koffer?"Er: "Ich würde es gern wissen."Sie: "Ach so."So beschwören sie die einst magisch aufgeladenen Beziehungsreliquien (Der Koffer! Das Fahrrad!) und stoßen dabei immer wieder nur auf ihre Fremdheit. Zwischen die Minidialoge hat Roland Schimmelpfennig wortlose Szenen geschaltet. Eine Frau kommt mit einem Koffer aus einer Tür. Ein Mann fährt mit einem Fahrrad gegen eine Wand. Ein Paar geht spazieren und küsst sich. Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Szenen um die Erinnerungen des Paares, aber der Clou an dem Stück ist, dass auch jetzt keine Geschichten erzählt werden. So wie das Paar nichts mehr zueinander sagen kann, so produziert die Erinnerung auch keine Zusammenhänge, sondern Schlaglichter, traumatische Splitter oder idealisierte Momente.Man sieht schon, dass der Dramatiker Roland Schimmelpfennig eher minimalistisch und formal arbeitet. Wollte man den Text literarisch verorten, könnte man sagen, dass er sich etwas von Peter Handkes wortlosem Stück "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" geliehen hat und zugleich Konzepte des Nouveau Roman verarbeitet, wie sie Alain Robbe-Grillet in seinen Romanen durchexerziert hat. Wie bei Handke geht es Schimmelpfennig scheinbar um Momente des Nichtsprachlichen, um Zwischentöne, um Blicke und zarte, aber große Gefühle. Und wie Robbe-Grillet meint Schimmelpfennig, solche Zustände nicht einfach erzählen, sondern nur andeuten, umkreisen und anreißen zu können. Die Spannung entsteht durch Variationen der immer gleichen Szenen durch Motivwiederholungen und Verschiebungen."Vor langer Zeit im Mai" schaffte es nicht mal bis zur Uraufführung und blieb in der Schublade des Verlages liegen, weil kein Theater es wollte. Die Zeit gierte damals nach anderen Stoffen, nach Stücken, die knöcheltief im sozialen Elend wateten, und in denen scharf geschossen wurde. Inzwischen hatte Thomas Langhoff, noch Intendant am Deutschen Theater, Thomas Ostermeier als Leiter der Baracke eingesetzt, der innerhalb weniger Monate zum Obercowboy des neuen realistischen Theaters gewählt wurde und mit seinen Kollegen bis spät in die Nacht in der benachbarten Acke Bar Möglichkeiten des politischen Ansatzes auslotete. Der Reporter kann sich erinnern, dass er selbst in einen schaukelnden Wildwest-Gang verfiel, sobald er das hippe Gelände der Baracke betrat. Es war das Gewicht der bedeutungsvollen Berlin-Mitte-Gegenwart, die drückte und die Beine zum O verformte. Roland Schimmelpfennig jedenfalls war auch mal in der Baracke, als er beim Stückemarkt eines inzwischen längst vergessenen Theatertreffens "Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte" vorstellte und wirkte in seiner Barbour-Jacke zwischen all den neuen Helden fehl am Platz. Er lernte Ostermeier kennen, man verstand sich, und dann fuhr er wieder nach München zurück.Man kann nicht sagen, dass Roland Schimmelpfennigs Lebenslauf atemberaubende Wendungen genommen hätte. Aufgewachsen in Göttingen ("da gab es alles, was man brauchte"), Zivildienst, und während des Studiums schon Arbeit an den Münchner Kammerspielen. Da sticht nur ein fast einjähriger Aufenthalt in Istanbul nach dem Abitur heraus, wo er für eine deutsch-türkische Monatszeitschrift Texte redigierte. Mit fast mönchischer Reduktion zählt er die Stationen auf, nur von einer Sache spricht er mit Überschwang: von dem Moment, als er irgendwo in der kalifornischen Pampa saß, wohin er sich zum Schreiben zurückgezogen hatte, das Telefon klingelte und er gefragt wurde, ob er nicht als Dramaturg an der Schaubühne arbeiten wolle: "Da habe ich kurz überlegt und dann zugesagt."An der Schaubühne ist Roland Schimmelpfennig der leise Hausgeist im Hintergrund, eine Art Gegenpol des Innerlichen zum kraftmeierischen Ostermeier. "Der Fluchtpunkt meiner Geschichten ist eher das private Glück, das Glück der privaten Erfüllung. Es ist in der Tat nicht die gesellschaftliche Utopie." Und er ist so etwas wie der Hausentkrampfer. Nachdem das Direktorium mit dem berühmt gewordenen Manifest und der glühend ambitionierten Ostermeier-Inszenierung von Lars Norens "Personenkreis 3.1." die Schaubühne in eine Ehrgeizverkrampfung hineinmanövriert hatte, war im letzten Jahr dann endlich der richtige Moment für "Vor langer Zeit im Mai" gekommen. Barbara Frey inszenierte mit leichter, präziser Hand. Stephanie Eidt und Kay Bartholomäus Schulze saßen auf einer Empore und spielten ein wunderbar verklemmtes Ex-Paar, das sich nichts mehr zu sagen hat, aber deren Hände nicht voneinander lassen können, während unten in einer Art Manege mehrere Fahrradfahrer auf engstem Raum gefährliche Achten drehten und für Minuten nur das Knirschen des Sägemehls zu hören war. Der Abend lebte ganz vom Hören und Sehen und den Details, dass die Angespanntheit entweichen konnte wie aus einem Ballon.In Schimmelpfennigs Welt spielen die kleinen Dinge eine große Rolle. Sie wachsen, stehen zwischen den Figuren wie Hindernisse und können ein harmloses Bauernhaus in ein geheimnisvolles Gefängnis verwandeln. In dem frühen Stück "Die ewige Maria" tauchen ständig angelehnte Türen auf. Alle lassen die Türen nachts angelehnt und warten. Maria könnte ins Zimmer ihres Verlobten gehen, aber sie tut es nicht, sondern horcht nur und erzählt ihm am nächsten Morgen, wie laut oder leise er geatmet hat. Auch die Tür zum Zimmer des Schwiegervaters steht offen, und am Ende ist Maria dessen Frau, obwohl man nie erfährt, ob sie jemals durch seine angelehnte Tür gegangen ist. Beim ersten Mal ist die angelehnte Tür eine schüchterne Einladung, beim zweiten Mal eine hinterhältige Gefahr und beim dritten Mal nur noch das Bild von Lüge, Ohnmacht und familiärer Verstrickung, unbehaglich wie eine Hand, die sich plötzlich in den Nacken legt. An der Oberfläche wirkt alles klar und harmlos und offen, aber unterschwellig arbeitet eine unheimliche Kraft an einer Verschleierung, die aus Menschen Marionetten macht. Dieses Prinzip hat er in der "arabischen Nacht" auf die Spitze getrieben. Die fünf Figuren, die im Hochhaus aneinander vorbeileben, und deren Schicksale auf magische Weise miteinander verbunden sind, sprechen nicht nur ihren Text, sie kommentieren auch ihre Handlungen und die der anderen: Jeder ist die Kamera des anderen. Absolute Transparenz. Dass man in dieser Transparenz bald den eigenen Augen nicht mehr traut, macht das Geheimnis des Stückes aus. "Die Verschleierung", sagt Roland Schimmelpfennig, "war bei der Arbeit das Allerschwierigste." Mehr will er dazu nicht sagen.Wasser verschwindet in einem Hochhaus und taucht in einem Wüstenzelt wieder auf.BERLINER ZEITUNG/JANNIS CHAVAKIS Roland Schimmelpfennig: Sein neues Stück "Die arabische Nacht" wird in dieser Saison an zehn Bühnen gespielt.