Eine "ganz normale Kneipe"

Am Anfang waren Schnaps und Wein. Im Jahr 1877 gründeten die Brüder Emil und Max Leydicke in der Schöneberger Mansteinstraße eine Likörfabrik und Weinprobierstube. Sie setzten Obstweine und Liköre an, brannten Hochprozentiges nach eigenen Rezepten und verkauften es. In den 20er-Jahren wurde die Destillierstube im Schatten der Yorckbrücken zu einem Lokal mit dem üblichen Publikum aus Proletariat und Kleinbürgertum. Bis 1968. "Bis dahin waren wir eine ganz normale Kneipe", sagt Raimon Marquardt, der zusammen mit seiner Mutter das "Leydicke" in vierter Generation führt. 1968 entdeckten Studenten das Lokal. Sie fanden eine Kneipe vor mit 20er-Jahre-Fliesenboden, einer langen, dunkel gerauchten Theke, alte Schnapsflaschen mit eigentümlichen Leydicke-Aufklebern im Regal. Sie entdeckten die Wucht der fruchtigen Weine und Liköre, über deren Gläsern sich gut die Revolution oder der nächste Kinobesuch planen ließen. Und sie entdeckten Luzie Leydicke, die Wirtin. Die muss Drache und Mutter in einer Person gewesen sein. Sie pöbelte die Gäste an, wenn die zu wenig tranken. Sie schlichtete Streit, holte Weltverbesserer auf den Boden zurück, sprach Mut zu, tröstete, schenkte nach. Die "Zeit" druckte kurz nach Luzies Tod im Sommer 1980 einen Nachruf."Wir waren das Sprungbrett auf dem Weg nach Kreuzberg, das gerade zum Szenebezirk wurde", erinnert sich Enkel Marquardt. Im Laufe der Jahre mischte sich das Volk im Leydicke. Die Studenten blieben, Touristen kamen. Westdeutsche Schülerinnen erlebten auf Klassenfahrten mit ihren Lehrern den ersten Vollrausch, Busse luden trinkfeste Holländer ab. Bis 1989.Nach dem Mauerfall erlitt das Leydicke das Schicksal vieler Kneipen im alten West-Berlin. Es blieb leer zurück. "Die Szene", wie Raimon Marquardt sagt, "wandert immer." Diesmal nach Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain. Heute gehen die Fruchtweine noch einigermaßen, von den Likören häufig noch nach alten Rezepten von Emil und Max gebrannt allenfalls der gerühmte Eierlikör, der Mokka-Sahne- und der Pomeranzenlikör. "Der Berliner hat keine Kultur", hat Raimon Marquardt festgestellt, "der säuft immer Bier." Wenn er marktwirtschaftlich denken würde, sagt Marquardt, hätte er die Destillation im Keller längst einstellen müssen. Er tut es nicht: Wegen der 122-jährigen Tradition und weil die Kneipe selbst mit schwächelnder Schnapsproduktion kaum Pleite gehen kann. Marquardt zahlt keine Miete. Das Haus gehört ihm.Leydicke: Mansteinstraße 4, Silvester bis 22 Uhr, Neujahr geöffnet.