Eine Geschichte über das schwierige Leben New Yorker Künstler, die von Europa träumen. Und von Berlin: Heimlich Wohnen

Auf der Manhattan-Bridge hält ein Radfahrer vor einem Mülleimer. Er trägt Helm, Handschuhe, Rucksack. Jetzt öffnet er den Rucksack und holt eine prall gefüllte Plastiktüte heraus. Vorsichtig schaut er sich um, bevor er sie in den Eimer wirft und weiterfährt.Weder Fahrradbote noch Bombenleger ist dieser Mann, sondern Künstler. New Yorker Künstler. Einer von Tausenden, deren Leben hier täglich schwieriger wird. Unfähig, die ins Unermessliche steigenden Mieten zu bezahlen, müssen viele ins Umland oder in kleinere Städte ziehen. So mancher träumt von Europa, besonders von Berlin, wo es Platz in Hülle und Fülle für wenig Geld geben soll.Pierre Louaver ist auf dem Weg zu seinem Job an der Upper East Side. Als Bauleiter koordiniert er dort Schreiner und Installateure, um das Penthouse eines steinreichen jungen Paares bewohnbar zu machen. In der Plastiktüte war sein Hausmüll, den er nicht entsorgen kann, weil das Atelier, in dem er wohnt, nur für gewerbliche Nutzung zugelassen ist. Solche Häuser bekommen in New York keine städtische Müllabfuhr. Wem das Geld für private Müllmänner fehlt, der muss sich an die Tonnen der Privilegierteren anschleichen oder die öffentlichen Abfalleimer auf der Straße benutzen, in die man eigentlich nur Flaschen, Fastfood-Verpackungen und Hundekot hineinwerfen darf.Pierre Louaver lebt in Dumbo (Down Under the Manhattan Bridge Overpass), dem Viertel zwischen Manhattan- und Brooklyn-Bridge auf der Brooklyn-Seite. Wenn man von der Subway-Station York Street auf die Straße tritt, begrüßt einen ein imposanter Brückenpfeiler, gleich danach sticht ein dreißig Stockwerke hohes Haus ins Auge, das an einen Plattenbau erinnert. Es ist einer jener in Windeseile errichteten Türme, in denen man für 600 000 bis eine Million Dollar kleine Luxuswohnungen erwerben kann.Nicht weit davon, in der Jay Street, liegt eine zehnstöckige, stillgelegte Fabrik aus dem 19. Jahrhundert. Ein schönes Gebäude mit Rundbogenfenstern und dunkelroten Backsteinen. "Gallery Space Available" steht auf einem gelb-schwarzen Banner, Galerie-Räume zu vermieten. Die Lobby ist billig renoviert. Die erste und zweite Etage hat der Besitzer etwas aufmöbeln lassen und an kleinere Geschäfte, einen Hutsalon zum Beispiel, vermietet. Im dritten Stock wird gerade gemalert, aber im vierten fällt der Putz von den Wänden, verrostete Rohre hängen unter den Decken, man läuft auf löchrigem Zement.Hier, in einem ziemlich heruntergekommenen Raum, richtet sich Pierre Louaver sein neues Atelier ein. Er ist mal wieder umgezogen. Das dritte Mal in zwölf Jahren. Zuerst mietete er für 400 Dollar ein finsteres Loft im ersten Stock der Fabrik. Als vor drei Jahren die Bauarbeiten begannen, musste er in den dritten ausweichen, wurde aber mit ein klein wenig Licht belohnt. Jetzt, im vierten Stock, hat er in einer Ecke sogar etwas Sonne. Er bezahlt noch 1100 Dollar für einen 140-Quadratmeter-Raum, in den unteren Etagen kostet so ein Raum bereits das Zwei- bis Dreifache.In den 60er Jahren zogen New Yorker Künstler zu niedrigen Mieten in alte Lagerhäuser und stillgelegte Fabriken und bauten sie sich aus, unter ihnen Jasper Jones und Robert Rauschenberg. Mitte der 80er aber mussten viele ihre Lofts wieder verlassen. Die Stadtverwaltung bestand darauf, gewerbliche und private Nutzung zu trennen. Die stark ramponierte Metropole sollte für Wallstreet-Broker, Werber und Galeristen salonfähig gemacht werden."Die Immobilien-Investoren folgten den Künstlern nach SoHo", sagt Louaver. "Sie hatten begriffen, dass in den Lofts ein großes ästhetisches Potenzial für Wohnraum steckte." Bodenpreise und Mieten stiegen, die meisten Künstler mussten in billigere Gegenden ausweichen, zunächst weiter Downtown nach Tribeca, dann nach Williamsburg in Brooklyn, am Fuß der gleichnamigen Brücke. Oder nach Dumbo. "Aus Geldnot", sagt Louaver, "passen sich viele den jeweiligen Kunstmarkttrends an, statt eigene, schwierigere Wege einzuschlagen."Für heutige New Yorker Verhältnisse hat Louaver ein schönes Atelier. Hohe Wände, zwei stilisiert korinthische Säulen aus Terrakotta, vier Fenster blicken auf enge, von Tauben besudelte Lichtschächte. Louaver hat den Zementfußboden grau und die Wände weiß gestrichen. Seine Bilder müssen auf hellem Grund hängen. Nur so kommen die Schatten zur Geltung, die ihre auf durchsichtigem Stoff gemalten abstrakten Motive auf die Wand werfen. Ein über zwei Meter hohes Werk ist schon zu sehen. Formen, die an Interieur erinnern, Fenster vielleicht, in rotbraun, orange und blau.Pierre Louaver wuchs in der Bretagne auf, ging in Lille auf die Kunstschule und kam mit 26 Jahren nach New York. Seine Bilder waren in New York, Paris und Brüssel zu sehen. Dennoch und trotz seines gut bezahlten Zweitjobs kann er sich zusätzlich zum Atelier keine Wohnung leisten. Die Lösung heißt Invisible Living, unsichtbares Wohnen.In der Mitte seines Ateliers steht ein elegantes Holzmöbel auf Rädern, die man nicht sieht. In den Fächern und Schubladen könnte man Farben und Pinsel vermuten. Stattdessen verbirgt sich darin eine ganze Kücheneinrichtung. Ein Werkzeugkasten tarnt das Besteck. Louavers Kleidung, in ebenfalls fahrbaren Plastikcontainern verstaut, verschwindet unter Regalen. Das Futon-Bett ist tagsüber eine Couch. An Nachtruhe erinnern nur Wecker, Buch und Wasserglas auf einem schmalen dreistöckigen Wandregal. "Den Nachttisch", sagt der Designer, "kann man jederzeit abnehmen." Sein wichtigstes Utensil aber ist das hässliche Industriewaschbecken an der Wand gegenüber der Tür. Ein Gartenschlauch, eine eigentlich zum Zementmischen gedachte Plastikwanne und ein darüber installiertes Abstellregal machen es zur Duschkabine. Man steigt in die Wanne, verbindet den Schlauch mit dem Wasserhahn und zieht den Plastikvorhang zu, der unterm Regal befestigt ist. Fertig ist die Duschkabine.Dumbo hat zwei Sorten von Vermietern, die mächtigen, die in ihren Häusern hochkarätige Gewerberäume einrichten und sie an Anwaltsfirmen vermieten. Ihr Vorreiter war David Walentas, der sogenannte Donald Trump von Dumbo. In den 80er Jahren kaufte er alte Fabriken zu Spottpreisen, vermietete sie an Maler, Bildhauer und Fotografen, unterstützte Künstlergruppen und ein Theater. Heute besitzt er über 300 000 Quadratmeter Wohn- und Bürofläche, die Bodenpreise und Mieten hat er auf Manhattaner Niveau getrieben. Walentas aber spielt unbeirrt den Gentleman und Förderer der Künste.Dann gibt es noch die sogenannten Slumlords. "Die renovieren schlampig und lassen nur das Allernötigste reparieren", sagt Louaver. "Gegen die Ratten unternahm unser erst was, als im Parterre ein schickes Lebensmittelgeschäft einzog. Und um den Schlüssel für das Klo auf dem Flur musste ich eine Nachbarin bitten."Das Haus in der Jay Street gehört dem erfolgreichsten Slumlord Dumbos, Joshua Guttman, einer Art Gegenstück zu Walentas. Alles andere als ein Gentleman und nur wenig um seinen Ruf besorgt, ließ er vor ein paar Jahren bei eisiger Kälte sechzig Mieter aus einem seiner Häuser evakuieren. Kurze Zeit später stand ein Teil desselben Hauses in Flammen, seit den 80er Jahren eine bewährte Methode, Versicherungsprämien einzustreichen und Baugenehmigungen zu erschleichen. 2004 brannten in Brooklyn-Greenpoint mehrere Lagerhäuser aus dem frühen 19. Jahrhundert ab. Es war das größte Feuer seit dem 11. September. Guttman geriet abermals unter Verdacht, aber man konnte ihm nichts nachweisen.Auf der anderen Seite der Jay Street lebt die Bildhauerin Sandrine Toto in einem Traumatelier mit sieben Fenstern und Blick auf die Manhattan-Bridge. Ihr illegaler Wohnbereich ist bequemer als Louavers, aber auch auffälliger. Vor den Schnüffelbesuchen des Hausmanagers ist sie mehrere Stunden damit beschäftigt, ihren Hausrat zu verstecken.Mitte der 60er Jahre lebte und arbeitete Sandrine Toto in Greenwich Village, zog von dort ins East Village, dann nach SoHo in einen riesigen Loft. Vor vierzehn Jahren entdeckte sie Dumbo. In der Jay Street wohnten damals vor allem Hausbesetzer und wilde Hunde. "Jetzt haben wir hier Heerscharen von Nannys aus der Karibik, die Kinderwagen über das Kopfsteinpflaster schieben", sagt sie. Sandrine Totos Miete ist gerade von 1600 auf 2000 Dollar erhöht worden.Bevor Pierre Louaver erfuhr, dass er zwei weitere Jahre in der Jay Street unterkommen kann, fuhr er mit dem Fahrrad nach Bushwick, dem jüngsten Zufluchtsort für vertriebene Künstler. Östlich von Williamsburg gelegen, war dieses Viertel mit seinen vielen Brauereien bis in die 60er Jahre hinein ausgesprochen wohlhabend. Im Zuge der Deindustrialisierung aber verslumte das schöne Bushwick in kürzester Zeit und wurde 1977 zum Opfer jenes dramatischen Stromausfalls, der Plünderungen und Brandstiftungen zur Folge hatte. Danach war alles verwüstet. "Die Lofts in Bushwick sind ziemlich trostlos", sagt Louaver, "niedrige, deprimierende Lagerhäuser, viele Höfe, leere Straßen ohne Bäume, reine Industrielandschaft."Für 2000 Dollar hätte er in dieser gottverlassenen Gegend ein Atelier mieten können, kleiner als das derzeitige, dafür frisch gestrichen und mit Parkett. Wohnen im Atelier war ausdrücklich verboten.Im Internet fand Louaver schließlich eine vielversprechende Anzeige: "Shower in hallway - humanitarian landlord", "Dusche im Flur - menschlicher Besitzer" hieß es da. Er fuhr hin und traf einen Mann, der sich als Vertreter des Hausbesitzers vorstellte und von ihm in höchsten Tönen schwärmte. Er habe seine Pulloverfabrik geschlossen, um das Gebäude nun Künstlern vorzubehalten. Ökologische Sanierung. Waschbecken in den Ateliers und eine Dusche auf jedem Flur. Louaver war weniger beeindruckt. Das Projekt nennt sich EWAC (East Williamsburg Art Center), obwohl es nicht in Williamsburg, sondern in Bushwick ist, und illegal ist es letztlich auch. "Der menschliche Landlord als Alternative zum Slumlord", sagt er. "Damit macht er den Mietern das unsichtbare Wohnen leichter und unterläuft gleichzeitig das Gesetz zur gewerblichen Nutzung."Würde er denn dorthin ziehen, wenn sein Vermieter in Dumbo mit der Renovierung im vierten Stock angekommen ist?"Nein", sagt Louaver, "lieber lerne ich Deutsch und gehe nach Berlin."------------------------------Foto : Pierre Louavier in seinem Loft in Dumbo