Eine sehenswerte Dokumentation über die antiautoritäre Erziehung: Was ist bloß aus euch geworden?
Kinder trampeln über die Tasten eines Klaviers, beschmieren einander mit Farbe. Babys matschen mit Fingern im Essen. Schüler fuchteln mit Stöcken herum und rennen auf die Straße, um "das System zu verändern!". Es sind seltsame Szenen, die das "große sozialpolitische Experiment der antiautoritären Erziehung" hinterlassen hat, wie der NDR es nennt. Was mag aus diesen Kindern geworden sein? Was denken ihre Eltern heute? Was ist überhaupt noch übrig von jener Erziehungsrevolution, die vor vierzig Jahren begann? Das fragten sich die Autoren Anne Ameri-Siemens und Fabian Döring für ihre Dokumentation "Die hielten uns für Spinner ."Lange KettenzöpfeKonservative Erzieher warnten damals: "Die Unerzogenen müssen scheitern". Einer jener "Unerzogenen" ist der 1964 geborene Jakob. Im Film sieht man ihn am Pool seines großen Grundstücks stehen. Er ist Immobilienkaufmann nahe Frankfurt am Main und sagt Dinge wie: "Natürlich gebe ich an mit dem, was ich habe. Mit schönen Autos und so." Seine Mutter Anna, die einst den ersten "antiautoritären Kinderladen" des Ortes gründete, trägt noch immer lange Kettenzöpfe, die ihr unablässig am Kopf herumklappern. Das hat Jakob als Kind schon genervt.Aber trotzdem dankt er seiner Mutter "für die lange Leine", an der sie ihn einst ließ. Er genoss Freiheiten, die keiner seiner Schulfreunde hatte. Seine Mutter "erzog" ihn nach den Grundsätzen des Pädagogen Janusz Korczak, der davor warnte, die Kinder vor lauter Fürsorge und Angst am Leben zu hindern. Und sie sieht auch in ihm als bürgerlichen Unternehmer - ganz ideologiefrei - die Frucht ihrer Erziehung: "Er ist mutig und lebt gerne. Ausgesprochen gerne!"Vier sehr verschiedene Eltern-Kind-Paare stellt der Film vor. Und man erkennt bald: Die "eine" antiautoritäre Erziehung gab es nicht. Es gab unzählige Versuche und auch unzählige Ergebnisse.Senta Berger, die wohl prominenteste Mutter in diesem Film, entschloss sich einst, ihre Kinder partnerschaftlich zu erziehen - unbelastet von den alten Zwängen wie "Ordnung und Obrigkeit". Ihr Sohn Simon Verhoeven, 1972 geboren, erinnert sich an eine "wunderbare, freie, abenteuerliche, phantasievolle Kindheit". Nicht so gut erging es der 1977 geborenen Jeanne Tremsal. Sie lebte als Kind in der Kommune des später verurteilten Wiener Aktionskünstlers Otto Muehl. Aus dieser Zeit blieben ihr zwar auch schöne Erinnerungen "an ein Miteinander, ein Teilen, Geben und Nehmen", doch das Traumatische wirkt stärker, bis heute. Denn sie wurde wie alle Kinder der Gruppe von ihren Eltern getrennt und hatte Angst vor Muehls "Therapie"-Methoden, zu denen die Selbsterniedrigung vor der Gruppe gehörte.Der Film macht deutlich, wie sehr den "antiautoritär" erzogenen Kindern ihr Anderssein bewusst war. Alle hatten Probleme damit, "Sonderlinge" zu sein - mal mehr, mal weniger. Sogar der in München mit liebevollen Eltern aufgewachsene Simon Verhoeven sehnte sich eines Tages danach, "auch mal in die Kirche zu gehen". Er strebte "nach bürgerlicher Anständigkeit, weil man dann in den Himmel kommt". So hatte er es in der Schule gehört.Sehr wichtig ist dieser Film angesichts der aktuellen Debatte um die Wiederbelebung von Disziplin, Ordnung und Leistungsdruck, um gesellschaftliche Probleme zu bewältigen. Wie interessant ist es da, zu sehen, dass kein einziges der Kinder des Films im Leben gescheitert ist. Sie sind Schauspieler, Regisseure, Filmproduzenten, Unternehmer geworden und führen ihre Energie, sich durchzusetzen, fast einhellig auf ihre andersartige Kindheit zurück: "Es war ein starker Motor, auch zu zeigen, dass man's kann" - "Ich bin meinen Eltern dankbar dafür, dass ich auch ins kalte Wasser springen muss, um das Leben aufregend und spannend zu finden".Glück durch GeborgenheitDer Film trägt dazu bei, Werte wie Freiheit und Toleranz zu verteidigen, die sich in der Erziehung mittlerweile weithin durchgesetzt haben. Eines sieht man dabei aber auch ganz deutlich: Nicht das "Antiautoritäre" an sich macht den freien, glücklichen Menschen. Was wirklich nachwirkt, das sind Geborgenheit und Zuwendung. "Ich liebe meine Mutter über alles", sagt Simon Verhoeven. Da gibt es nichts mehr zu sagen."Die hielten uns für Spinner ."; 22.30 Uhr, NDR------------------------------"Natürlich gebe ich an mit dem, was ich habe. Mit schönen Autos und so." Jakob, Immobilienmakler, einst antiautoritär erzogen------------------------------Foto: Von ihnen, glaubten wohlerzogene Konservative, drohte der Untergang des Abendlandes: Kinder, die ohne Zwang und vermeintlich ohne Regeln aufwuchsen wie hier in einem Kinderladen 1971.